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Berührt vom Ort an der Kante
Mit dem Staat ist keine Klimagerechtigkeit zu machen. In Lützerath haben Menschen gelernt, dafür zu kämpfen
Warum halten Menschen Wind und Wetter stand, fügen sich an den Fingerkuppen Selbstverletzungen zu, geben einen Großteil ihres Schlafes auf, unterdrücken Hunger und Müdigkeit, verzichten auf Wärme und Duschen, harren stundenlang auf Tripods aus, schlafen in Zelten auf matschigen Wiesen und sind bereit, ihre körperliche Unversehrtheit bei einem Polizeieinsatz zu riskieren? Die Aktivist*innen, die Lützerath verteidigen, legen einen Körpereinsatz an den Tag, bei dem sie physische und seelische Grenzen überschreiten. An einem solchen politischen Ort zu sein, kostet Kraft – vor allem wenn die Zerstörung näher rückt.
Der Widerstand in Lützerath begann für die meisten Menschen mit einer Demonstration im Sommer 2020, als der Abriss der Straße L277 bevorstand. Seitdem gab es eine Mahnwache direkt an der Tagebaukante, wurden Baumhäuser errichtet, tonnenweise Essen für alle gekocht und namhafter internationaler Besuch empfangen. Der sonntägliche Dorfspaziergang half dabei, Menschen aus der Region und darüber hinaus in den kleinen Weiler zu locken. Am 8. Januar 2023 fand der letzte Dorfspaziergang statt. Der Weg der Radikalisierung, den der Ort und seine Menschen inzwischen zurückgelegt haben, zeigt sich daran, dass sich an diesem Tag ansonsten eher zurückhaltende Bürger*innen spontan am Barrikadenbau beteiligten. Wie bei einem Umzug wurden gemeinschaftlich Pflastersteine aus einer Hofeinfahrt gelöst und über Menschenketten bis an die ehemalige Bushaltestelle gereicht.
Viele Menschen haben sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren von dem Ort an der Kante berühren lassen. In zahlreichen Gesprächen ließen sich Gründe dafür ausmachen. Die Motivation kommt aus dem Bewusstsein des systemischen Unrechts, das sich in Lützerath offenbart. Menschen, für die Gerechtigkeit ein Grundwert ist, können nicht anders, als Widerstand zu organisieren. Ihre Hoffnung auf eine Veränderung der Zustände ist auch ein Akt des Trotzes, der ihnen unabhängig von tatsächlichem Erfolg ermöglicht, über Monate hinweg eigene und kollektive Kräfte zu mobilisieren.
Lützerath als Schauplatz der Zerstörung
In der Erweiterungszone des Tagebaus Garzweiler II liegt Lützerath auf dem dicksten Kohleflöz. Die 1,5-Grad-Grenze Deutschlands, sie verläuft, wie es das Banner an Eckhardt Heukamps ehemaligem Hof sagt, vor Lützerath. Es ist also nicht schwer zu begreifen, dass der Ort direkt mit der Verteidigung der Klimaziele zusammenhängt. Die Lage des Dorfes an der Tagebaukante zeigt die zugespitzte Situation: hier Lebendigkeit, da dystopische Leere.
Orte, die die unbegreifliche Zerstörung so eindrücklich aufzeigen, sind in Deutschland selten. Die meisten Schauplätze der Zerstörung wurden konsequent in andere Länder outgesourcet. In Lützerath hingegen wird deutlich, dass die sonst vorherrschenden kulturellen Muster zum Umgang mit der Klimakrise – Indifferenz, Verdrängen, Vertagen und Abwiegeln – nicht mehr greifen. RWE gibt sich zudem alle Mühe, den perfekten Antagonisten in dieser Auseinandersetzung zu spielen. Mit einer unheimlichen Ausdauer verdichtet der Konzern alle Aspekte von Täterschaft, die das kapitalistische Wirtschaftssystem unserem Zusammenleben aufnötigt.
Strategisch macht es für die deutsche Klimabewegung Sinn, sich langfristig auf Orte wie Lützerath zu konzentrieren. Seit dem Kampf um den Hambacher Forst lernt sie, auch räumlich zu denken und zu arbeiten. Einen Großteil ihrer taktischen Arbeit steckte sie bisher aber in die Organisation von Massendemonstrationen oder -blockaden. Die politische Wirkung war flüchtig, ein etwaiger Machthebel war spätestens mit der Pandemie weitgehend verpufft. Hinzu kommt eine unklare Position zum Staat, die die verschiedenen Teile der Klimabewegung vertraten. Kann er durch öffentliche Aufmerksamkeit und Druck zum Umlenken gebracht werden, oder wird er Kapitalismus, Extraktivismus und Neokolonialismus als Kern seiner Identität verteidigen?
Zusammenarbeit verschiedener Milieus
Nach ihrem Aufbäumen mit großen Aktionen 2019 und der enttäuschten Hoffnung auf eine danach folgende transformative Politik steht die Klimabewegung vor der Herausforderung, Strategien zu entwickeln, die hinter eine Einsicht nicht mehr zurückfallen: Die Klimakrise ist im Kern ein Konflikt. Ein Konflikt zwischen Alt und Jung, Nord und Süd, Privilegierten und Diskriminierten, Staat und Bürger*innen. Viel zu lange haben Teile der Klimabewegung allein auf Diskurswirkung und den Appell an Regierende und CEOs gesetzt. An Orten wie Lützerath lernt die Gesellschaft, den Konflikt zu spüren und zu leben. Der unpolitische Raum der Mitte und des Kompromisses ist angesichts der großen Grube außer Sicht geraten. Auch das zu begreifen, führt auf dem Weg der Radikalisierung einen Schritt weiter.
In Lützerath haben drei Milieus gelernt, zusammenzuarbeiten: erfahrene Aktivist*innen aus dem Kontext von Ende Gelände und »Hambi«, jüngere Aktivist*innen von Fridays for Future sowie Anwohner*innen aus der Region von Initiativen wie »Kirche im Dorf lassen« und »Alle Dörfer bleiben«. Weil sie sich mittlerweile gegenseitig respektieren, konnte der Ort eine unheimliche Anziehungskraft und Sichtbarkeit erlangen. Daraus ergab sich eine Vielzahl von Taktiken. Von Dorfspaziergängen und Gottesdiensten zu brennenden Barrikaden: Eine Abwertung der unterschiedlichen Widerstandsformen blieb aus. Es wurde begriffen, dass die Kraft aus dem Zusammenhalt kommt.
Gemeinsam haben die Menschen im Ort erfahren, wie geld- und tauschlogikfreie Selbstorganisation von Bedürfnissen auf freiwilliger Basis gelingen kann. Wie das gemeinsame Ziel der Dekolonisierung und der Überwindung des Patriarchats mit Leben gefüllt und aufrechterhalten werden kann. »Lützi« ist ein Ort, an dem das Ende des Kapitalismus vorstellbar wird, an dem Hoffnung entstehen kann. Vielleicht muss er auch deshalb so eilig plattgemacht werden.
Die Autorinnen haben Lützerath häufig besucht und sind auch während der Räumung dort.
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