Ein rassistisches Gewaltmonopol

Polizeigewalt ist ein Problem – buchstäblich überall, wo es die Institution Polizei gibt, aber in besonderem Maße in den USA

Die Corona-Pandemie ist in den Hintergrund gerückt, scheint irgendwie sogar vorbei zu sein – in dem Sinne, dass die Krankheit und der Umgang mit ihr nicht mehr die dominante Kraft ist, die das öffentliche Leben bestimmt. Die Tatsache, dass das Gesundheitssystem weiterhin am Rande des Zusammenbruchs steht, bleibt derweil bestehen. Das Fenster zur Hoffnung auf Veränderung, das sich zu Beginn der Pandemie im Frühjahr und Sommer 2020 ein kleines Stück zu öffnen schien, ist längst wieder fest geschlossen. In den USA fiel das erste Jahr der Pandemie mit den größten Protesten gegen rassistische Polizeigewalt zusammen, die das Land bisher gesehen hat. Hunderttausende Menschen gingen unter der Parole »I can’t breathe« auf die Straße, teils militant, teils im Appell an die staatlichen Institutionen, diesen mörderischen Praxen endlich selbst ein Ende zu setzen.

Auch seit dem Sommer der George-Floyd-Proteste sind nun anderthalb Jahre vergangen, es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme – und auch hier erscheint die Lage in Hinblick auf strukturelle Veränderungen niederschmetternd: Die Polizei in den USA tötet weiterhin täglich Menschen, sogar mehr als zuvor. Ausgerechnet 2021 gab es die höchste Zahl von Toten durch Polizeieinwirkung seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2015, im gerade vergangenen 2022 töteten Polizist*innen nach derzeitigem Stand 1018 Menschen, wie die Website Mapping Police Violence dokumentiert.

Abolitionistische Blütenträume

Die staatlich ausgeführte Gewalt auf der Straße geht also weiter, und ebenso düster sieht es mit jenem Anliegen der Black Lives Matter-Bewegung aus, das an die Ursache des Problems rühren sollte: der Abschaffung der Polizei. Obwohl sich Aktivist*innen teils sogar in Stadtparlamente haben wählen lassen, ist ein Rückbau der Institution Polizei bis heute nirgendwo in den USA auch nur begonnen worden. Im Gegenteil konnten nicht einmal minimale Mittelkürzungen durchgesetzt werden. Insgesamt ist also eine den Zielen der Bewegung faktisch entgegengesetzte Entwicklung zu beobachten. Eine aktuelle Studie mit dem aussagekräftigen Titel »Nobody Defunded the Police« legt dar, dass »der Prozentsatz des allgemeinen Fonds, der der Strafverfolgung gewidmet ist, von 2018 bis 2021 konstant blieb – etwa 29 Prozent – nach Berücksichtigung von Trends auf Stadt- und Landesebene«. In zahlreichen US-Städten wurden Bürgermeister*innen gewählt, die mit der Begründung der Kriminalitätsbekämpfung die Polizeibudgets wieder aufgestockt haben. Die eher linksregierte texanische Stadt Austin »reduzierte das Budget ihrer Polizeibehörde im Jahr 2021 um 32,5 Prozent, gab das Geld aber, wie Minneapolis, 2022 vollständig zurück«. Das Budget der Polizei in Seattle, einem anderen Hotspot der BLM-Proteste in 2020, wird für 2023 um 20 Millionen Dollar erhöht.

Und was tut die US-Regierung, derzeit gestellt von der Demokratischen Partei, die sich 2020 mehr denn je als Alliierte der außerparlamentarischen Linken inszenierte? In einer Rede zur Lage der Nation proklamierte Präsident Joe Biden im vergangenen Jahr bezüglich des Polizeibudgets: »Finanzieren Sie sie! Finanzieren Sie sie! Finanzieren Sie sie mit mehr Ressourcen und Schulungen.« Dass die Demokraten es hiermit – im Gegensatz zu »progressiven« Wahlversprechen – tatsächlich ernst meinen, zeigt sich unter anderem in dem Finanzierungspaket von über 30 Milliarden Dollar für die Polizei, welches Biden im Frühjahr 2022 bekanntgab.

Höchst deprimierender Fakt ist also: Selbst »die möglicherweise größte Bewegung in der Geschichte der USA« (New York Times) konnte keine auch nur minimalen Veränderungen in puncto Polizeigewalt bewirken. Und warum nicht? Die Antwort auf diese Frage verweist auf einen blinden Fleck des »Abolitionismus«, wie die theoretische Ausformulierung der Abschaffung der Polizei heißt. Während viele abolitionistische Ansätze die Polizei als hauptsächlich rassistische Institution begreifen, die fälschlicherweise zur »Klärung« sozialer Probleme und Konflikte eingesetzt werde, geht die objektive Funktion der Polizei weit über die Durchsetzung einer rassistischen Ordnung hinaus. Sie ist – viel grundlegender – die Hüterin der bürgerlichen Eigentumsordnung, verkörpert das staatliche Gewaltmonopol und ist genau darin integraler und eben unverzichtbarer Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft.

Bürgerliche Sachzwänge

Ein Mini-Schlaglicht auf die Geschichte der Polizei in den USA zeigt schon, woher der Wind wehte: »Einige der frühesten Beispiele für Polizeiarbeit sind die Gefangennahme entlaufener Sklaven, die Auflösung von Arbeiterstreiks und -bewegungen und die Beendigung von Unruhen, Protesten oder anderen Ausdrucksformen sozialer Wut.« Solange es diese sozialen Phänomene gibt – und das heißt unter so menschenfeindlichen Verhältnissen wie im Kapitalismus: immer –, solange braucht es auch die Polizei; Rassismus ist hier nicht Ursache, sondern Legitimation des bürgerlichen Herrschaftsverhältnisses. Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Notwendigkeit erschließt sich auch, »dass im Jahr 2017 von 1147 Todesfällen in 13 Fällen oder 1 Prozent der Fälle Beamte eines Verbrechens angeklagt wurden«, wie die medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« 2021 in einer Studie über tödliche Polizeigewalt festhält.

Die notorische Straflosigkeit der Polizist*innen existiert – genau deshalb nicht zufällig – auch in Deutschland. Und auch Polizeigewalt existiert derweil keinesfalls nur in den USA, sondern schlicht überall, wo es eine Polizei gibt, also auf der ganzen Welt. Die Lage in den einzelnen Staaten ist dennoch spezifisch und für die USA ist dazu zweierlei festzuhalten: Erstens ist die US-amerikanische Polizei exorbitant gefährlicher für Teile der Bevölkerung als die Sicherheitsorgane in anderen bürgerlichen Demokratien. »Im Jahr 2019 entfielen 13,2 Prozent der 8770 weltweiten Todesfälle aufgrund von Konfrontation mit der Polizei auf die USA, während diese nur 4 Prozent der Weltbevölkerung ausmachten«, stellt »The Lancet« fest. Zweitens prägt Rassismus, hier nahegelegt durch den Unterschied in der Betroffenheit schwarzer Menschen von rechter oder staatlicher Gewalt, die USA aufgrund der Geschichte der Versklavung besonders tiefgreifend. Unter anderem sind schwarze Menschen bis heute überdurchschnittlich betroffen von Armut, Ausgrenzung und jeglicher Art von staatlicher Repression, insbesondere etwa der Inhaftierung.

Die Instrumentalisierung der Kriminalitätsrate ist zentrales Element eines Narrativs, das Fraktionen der (maßgeblich weißen) US-Elite im Dienste einer rassistischen Law-and-Order-Politik pushen. Im Freispruch des »Vigilante« Kyle Rittenhouse, der bei antirassistischen Protesten 2020 im Bundesstaat Washington zwei Männer erschoss und einen schwer verletzte, zeigt sich exemplarisch die Überschneidung der Interessen von außerparlamentarische Rechter und rechten Staatsfraktionen, derzeit verkörpert in der republikanischen Partei und überdurchschnittlich vertreten bei der Polizei. Im Kern dieser Interessen steht der positive Bezug auf die Kategorie Eigentum, in diesem Fall das Recht auf Waffenbesitz, gestützt durch die Rechtskategorie der individuellen Freiheit, hier in einer sehr weiten Auslegung gefasst als »Notwehr«.

Für diese grundsätzlichen bürgerlichen Anliegen werfen sich entsprechend auf ihre Weise auch die Demokraten in die Bresche. Wie selbstverständlich das für eine Partei ist, die die Macht im kapitalistischen Staate behalten möchte, wird deutlich in einer Erklärung des Sprecher der Biden-Administration, Michael Gwin: »Der Präsident weiß, ebenso wie die überwältigende Mehrheit der Amerikaner, dass wir ein Strafjustizsystem haben können müssen, das sowohl die öffentliche Sicherheit schützt als auch unsere Gründungsideale der Gleichbehandlung vor dem Gesetz aufrechterhält. Tatsächlich gehen diese beiden Ziele Hand in Hand«. Dazu passt, dass die 25 größten von Demokraten geführten Städte pro Kopf 38 Prozent mehr für die Polizeiarbeit ausgeben als die 25 größten von Republikanern geführten Städte.

Die Mehrheit der Opfer ist männlich

Es muss wohl als Erfolg einer solchen Berichterstattung gezählt werden, dass knapp die Hälfte der Teilnehmer*innen einer Politico-Umfrage vom Februar 2022 Mittelkürzungen bei der Polizei für steigende Kriminalitätsraten verantwortlich sieht – obwohl solche Kürzungen gar nicht erfolgt sind! Darüber hinaus sind die Kriminalitätsraten seit den 1980er Jahren überall in den USA drastisch gesunken, vor allem aber in den großen Städten; eine Tendenz, an der auch ein leichter Anstieg in den vergangen zwei Jahren nichts ändert. So weit, so sehr Fake-News-Zeitalter.

Was dagegen sehr wohl angestiegen ist und immer weiter ansteigt, sind die Tode durch Polizeigewalt: um 45 Prozent zwischen 1999 und 2013. Überdurchschnittlich betroffen sind nicht-weiß Menschen und eben diese Leute, die von der Erhöhung der polizeilichen Präsenz zurecht das Schlimmste befürchten, sind in Umfragen wie der oben genannten gerade nicht repräsentiert – obwohl sie sich mit ihren Annahmen im Gegensatz zu anderen Teilen der Bevölkerung eindeutig im Bereich der Realität bewegen. So belegen schlicht die Zahlen, dass etwa für schwarze Männer eine 2,5-mal höhere Wahrscheinlichkeit für einen Tod durch Polizeigewalt besteht als für weiße Männer.

Bei aller notwendigen Hervorhebung der rassistischen Implikationen steht eines fest: Lebensgefahr im Umgang mit der Polizei besteht in den USA vor allem für Männer im Allgemeinen; statistisch stehen 1140 männlichen Toten durch Polizeigewalt 53 Tode von Frauen gegenüber. Bezieht man weiße Männer mit ein, steigt die Zahl der Polizeiopfer entsprechend noch einmal drastisch an. Die genauen Gründe für diese Geschlechtsspezifik erfordern eine genaue Betrachtung, die hier nicht geleistet werden kann, aber zwei Erkenntnisse lassen sich schon an dieser Stelle ableiten: Das bürgerliche Patriarchat schadet auch den Männern und Polizeigewalt lässt sich nicht allein durch Rassismus erklären, sondern hat allgemein-systemische Bedeutung. Beide Punkte sind für eine Kritik der Polizei von größerer Bedeutung, als es viele aktuelle Studien nahelegen. Durch die mehrheitliche Selbstbeschränkung auf Faktoren wie race, Ethnizität oder Geschlecht wird hier zumal die ökonomische Komponente zu einer Leerstelle, die analytisch nicht haltbar ist – und auch in linker Polizeikritik häufig unterbelichtet bleibt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -