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Friedensbewegung im Dilemma

Die Friedensbewegung und der Krieg in der Ukraine – eine Bestandsaufnahme

  • Alexander Leistner
  • Lesedauer: 7 Min.

Monate vor dem vollständigen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wurden wichtige Teile der russischen Organisation »Memorial International«, noch in der Zeit der Perestroika entstanden, und dessen Menschenrechtszentrum, vom Obersten Gericht Russlands verboten. Symbolisch kam dies der Auslöschung der Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltgeschichte und der Verbrechen der Gegenwart gleich. Wer die Friedensbewegung im östlichen Europa suchte, fand in Memorial einen Leuchtturm.

Die kritische Analyse zur Menschenrechtslage oder zum Krieg in Tschetschenien kostete Mitarbeiter*innen das Leben, wie viele andere Vertreter*innen der russischen Zivilgesellschaft auch. Deren bekannteste Vertreterin ist vielleicht die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkovskaja. Im Vorwort ihres 2005 in Deutschland erschienen Buches »Putins Russland« schreibt sie: »Ich glaube nicht, dass mein Buch in Deutschland viele Freunde findet. Wo doch jetzt Putin dort so hoch im Kurs steht«. Sie skandalisierte darin (weitgehend ungehört) die wohlstandssichernde Abhängigkeit und Nähe der deutschen Politik von und zu Russland. Das Erwachen der deutschen Öffentlichkeit war 2022 jäh – ein zum Teil als »Zeitenwende« kaschiertes Erschrecken über Entwicklungen, die kennen konnte, wer sich nur dafür interessierte.

Dr. Alexander Leistner

Dr. Alexander Leistner, Jahrgang 1979, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Aktuell leitet er zwei Teilprojekte im Forschungsverbund »Das umstrittene Erbe von 1989« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Der hier veröffentlichte Text ist eine leicht bearbeitete Passage aus einem längeren Beitrag in der jüngsten Ausgabe des »Forschungsjournals Soziale Bewegungen«. Dieses enthält einen Themenschwerpunkt »Die Friedensbewegung und der Krieg in Europa – eine Standortbestimmung«. Alexander Leistner steuerte dazu den Artikel »Wo steht die Friedensbewegung und was steht an?« bei.

Zum Weiterlesen: forschungsjournal.de

Wer die Friedensbewegung in den Tagen kurz vor und nach dem Kriegsbeginn im Februar 2022 suchte, fand sie bei den von ukrainischen Communities organisierten Mahnwachen und den Demonstrationen gegen den Krieg. Sie standen unter dem Motto »Stand with Ukraine« und hatten den Charakter von Empörungs- und Betroffenheitsmobilisierungen. Am 13. März 2022 demonstrierten noch einmal deutschlandweit über 100 000 Menschen. Eine tragende Rolle bei den Mobilisierungen spielten dabei eher Organisationen und Netzwerke wie »Campact« oder »Fridays for Future«.

Die Wahrnehmung der Friedensbewegung änderte sich Wochen später, als die traditionellen Ostermärsche anstanden. Diese hatten nur einen leichten Zulauf und waren zudem vielerorts von einer Situationsanalyse geprägt, die vor allem dem Westen und der Nato die maßgebliche Schuld am Ausbruch des Krieges gab. Diese Skandalisierung hätte Anna Politkovskaja, wenn sie denn noch gelebt hätte, wohl gewundert. Ein Jahr vor ihrer Ermordung schrieb sie: »Europa gewährt uns das Recht, unter Putin zu sterben. Wir wollen aber nicht sterben, wir schlagen um uns, versuchen freizukommen, zu überleben, unsere neu gewonnene Demokratie zu retten.«

In der Öffentlichkeit lösten spätestens die Ostermärsche Irritationen aus und bestärkten die Wahrnehmung, dass Teile der Friedensbewegung das Leid der Ukrainer*innen hinnehmen im Beharren darauf, mit der eigenen Kritik an der Nato immer schon recht gehabt zu haben. Die Kritik an der Bewegung war nicht besonders differenziert. Sie ließ wenig Raum für die Vielstimmigkeit und manchmal wirkte es, als würde die Friedensbewegung stellvertretend zum Sündenbock gemacht, für all jene bewusst entschiedenen Fehlentwicklungen der deutschen Politik und die mehr als 20 Jahre währende Atmosphäre der weitreichenden Kritiklosigkeit gegenüber Putin.

Die öffentliche, sich teilweise auch als Misstrauen äußernde Kritik an der Friedensbewegung wurde aber auch bestärkt durch manche öffentliche Verlautbarung aus der Bewegung. Es entstand der Eindruck einer von der Dramatik des Krieges und all seiner Implikationen für die europäische Sicherheitsordnung unberührten Selbstvergewisserung: »Als Friedensbewegung fühlen wir uns in unserem Mahnen seit den 60er Jahren bestätigt.« (Aufruf zum Ostermarsch 2022 in Hannover). Das konnte schnell wie eine hermetische Selbstbestätigung und Selbstbeschäftigung wirken, wie eine Fortschreibung friedenspolitischer Deutungsmuster aus den 80er Jahren. Von 47 öffentlich zugänglichen Aufrufen zu den lokalen Ostermärschen 2022 formulieren 20 eine gleichrangige und teilweise eine maßgebliche Schuld des Westens am Überfall auf die Ukraine. Sowohl die friedenspolitischen Positionen als auch das Bild des aktuellen Krieges blieben in den meisten Aufrufen abstrakt.

Nicht thematisiert wurden in der Regel die Erfahrungen ostmitteleuropäischer Gesellschaften, deren Gewaltgeschichte und die großen Schwierigkeiten mit den hegemonialen Ansprüchen und kriegerischen Zugriffen Russlands auf den postsowjetischen Raum und das alte imperiale Herrschaftsgebiet. Und selten fand sich eine Qualifizierung, um welche Art Krieg es sich handelt. Ein – folgt man sozialwissenschaftlichen Kriegstypologien – imperialer Unterwerfungskrieg, der die genozidale Schwelle überschritten hat: mit der Auflösung der Unterscheidung von Zivilist*in und Soldat*in, mit dem situativen aber systematischen Massaker als Mittel der Kriegsführung und einem System aus Filtrationslagern als räumliche Ordnung der Unterwerfung.

Es ist daher nicht überraschend, dass sich Proteste gegen die Ostermärsche und Gegenmobilisierungen aus den Erfahrungsgemeinschaften der gegenwärtigen Kriege Russlands herausbildeten. Die Allianz Ukrainischer Organisationen, die belarussische Gemeinschaft Razam und die syrisch-deutsche Menschrechtsinitiative Adopt a Revolution organisierten 2022 einen alternativen Ostermarsch in Berlin. In dem Aufruf heißt es, es sei an der Zeit, »solidarisch mit denjenigen zu sein, die unter den Kriegen von Autokraten und Diktatoren leiden. Es ist nicht solidarisch, die Opfer von Angriffen ihrem Schicksal zu überlassen. Es ist nicht friedlich, wenn man fordert, dass Opfer von Angriffen sich ergeben oder ermorden lassen sollen.«

Indirekt verweisen diese Gegenmobilisierungen auf ein ungelöstes und unbearbeitetes bewegungspolitisches Dilemma der Friedensbewegung: Aus der Richtigkeit der Ziele (Frieden ist mit militärischen Mitteln nicht herzustellen) lassen sich keine Antworten auf die Frage ableiten, wie die Kriegshandlungen konkret beendet werden sollen.

Eine solche Dilemma-Sensibilität stand schon einmal zur Debatte, im sogenannten Pazifismusstreit von 1995 innerhalb des deutschen Zweigs der internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi. Anlass war die Stellungnahme »Wider einen kommentarlosen Pazifismus!« des geschäftsführenden Vorstands von Pax Christi Deutschland. Es ging um die Frage, ob es Situationen geben kann, in denen gewaltfreie Mittel (wie Diplomatie) gescheitert sind und was – außer dem Eingeständnis des Scheiterns oder des Besserwissens (»Wir haben es schon immer gesagt«) – alternative Optionen sind, wenn gewaltfreie Mittel nicht (mehr) zur Verfügung stehen.

Bewegungspolitisch zielte die Debatte auf eine Öffnung der Situationsanalyse für die Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage. Dies war von der Überzeugung getragen, dass sich ein gewaltfreies Selbstverständnis diesen Dilemmata stellen müsse, wenn die Bewegung nicht in dogmatischer Orthodoxie erstarren will. Diese Debatte währte kurz und wurde recht schnell zugunsten einer pazifistischen Orthodoxie entschieden. Aus der Soziologie kann man lernen, dass es Dilemmata nur da gibt, wo Handlungsorientierungen nebeneinander existieren, die gleichrangig sind und in bestimmten Situationen in Konflikt geraten können, etwa die Orientierung am Primat von Gewaltfreiheit und Gewaltverzicht auf der einen und die Orientierung am Schutz unschuldiger Menschen vor kriegerischer Gewalt auf der anderen Seite. Die fehlende Kommunikation und Bearbeitung dieser Dilemma-Situation beziehungsweise die einseitige Auflösung des Dilemmas zugunsten rigorosen Gewaltverzichts hat aktuell den Eindruck erhärtet, der Friedensbewegung sei das Schicksal der Ukraine schlicht egal.

Das hat dazu geführt, dass Frieden aktuell ein Mobilisierungsthema in unterschiedlichen Protestkontexten ist. Man kann idealtypisch drei Muster unterscheiden:

– die »Die Waffen nieder«-Mobilisierungen der klassischen Friedensbewegung, mit sehr begrenzten Mobilisierungserfolgen (Primat des Gewaltverzichts);

– die zivilgesellschaftlich vor allem zu Kriegsbeginn breit getragenen »Stand with Ukraine«-Mobilisierungen (Primat der Solidarität mit den Angegriffenen);

– und zuletzt die »Frieden mit Russland«-Mobilisierungen der extremen Rechten (vor allem in Ostdeutschland) und innerhalb der nach rechts offenen Teile der Friedensbewegungen.

Letzteres gilt es analytisch gut zu trennen und genau auf Überschneidungen zu achten: Es gibt Rechtsverschiebungen innerhalb der Bewegung selbst und Aneignungen des Themas durch die extreme Rechte. Dies geschah spätestens seit den »Mahnwachen für den Frieden« ab 2014. Man kann beobachten, dass es an den Rändern der Friedensbewegung, die einst zweifelsfrei zur Familie progressiver Bewegungen zählte, bröckelt und sich ein Abgrund auftut – ein manichäischer Kosmos von Verschwörungsdenken und Antisemitismus, bevölkert von Akteur*innen der Neuen Rechten, Reichsbürger*innen, Vertreter*innen des Obskurantismus und Querdenkenden. Aber das war immer nur eine Minderheit in der Bewegung und die kritische öffentliche Berichterstattung hat häufig unterschlagen, dass es immer auch deutliche Abgrenzungen aus der Bewegung gab.

Aber in der aktuellen Lage besteht auch die Gefahr eines sich wechselseitig verstärkenden kommunikativen Kreislaufes der Isolation der Bewegung. Die fehlende Dilemma-Kommunikation führt zu harschen, teils überschießenden öffentlichen Urteilen über die Bewegung (»Lumpenpazifismus«). Bei Friedensengagierten kann dann der lähmende Eindruck und die Angst entstehen, dass unter dem Konsenszwang der öffentlichen Krisenkommunikation (»Wie hältst du es mit Waffenlieferungen?«) eine Re-Orientierung und Aktualisierung friedenspolitischer Überzeugungen als »Umfallen« missverstanden wird. Rechtsoffene Ränder und kleine Minderheiten der Bewegung und extrem rechte Aneignungen des Friedensthemas befeuern wiederum das Misstrauen, ob der Bewegung als Ganzes noch zu trauen ist. Diese unterschiedlichen Fremdzuschreibungen können das Gefühl bestärken, die eigene Prinzipientreue führe zu öffentlicher Ausgrenzung und die mediale Berichterstattung sei ungerecht und einseitig. Für manche ist im Extremfall der Weg zu einer fundamentalistischen Politikdistanz und einer ans Verschwörerische grenzenden Haltung zu Medien dann nicht mehr weit.

Es sind dies bewegungsinterne Herausforderungen und Fragen gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit. Selbstbeschäftigung könnte man meinen – denn auf die Frage nach dem Umgang mit dem russischen Einmarsch liefern sie keine Antwort. Deshalb sind sie aber nicht zu vernachlässigen. Denn die Friedensbewegung wird noch gebraucht in Zeiten multipler, sich verschränkender Krisen: in einer Situation, wo zum einen die europäische Friedensordnung durch den Krieg zerstört ist und zum anderen Prozesse der Destabilisierung die demokratischen Gesellschaften von innen her bedrohen.

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