Präsidentin Boluarte ist untragbar

Die Soziologin María Elena Foronda über die gewaltsam bekämpften Proteste in Peru

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 5 Min.

Mindestens 48 Tote seit der Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember und kein Ende der Proteste in Sicht, die nun auch Lima erreicht haben. Warum ist die Situation in Peru so verfahren?

Wie erleben die Eruption einer politischen Krise, die sich über Jahre aufgestaut hat und mehrere Facetten hat. Eine ist die parlamentarische Situation. De facto leben wir in Peru seit Jahren unter einer parlamentarischen Diktatur, die vom Fujimorismo dirigiert wird. Fuerza Popular, die Partei der Familie des ehemaligen Diktators Albero Fujimori (1990–2000), dirigiert seit sechs, sieben Jahren die politische Rechte des Landes, Parteien wie Renovación Popular, Acción Popular oder Alianza por el Progreso. Diese teilweise extreme Rechte hat ihre erneute knappe politische Niederlage an den Urnen im Sommer 2021 nicht akzeptieren wollen und können. Pedro Castillo, der gewählte Präsident, wurde von dieser Rechten nicht einen Tag als legitimer Präsident Perus akzeptiert. Gegen Castillo wurde vom ersten Tag an konspiriert, und genau dort, wo heute die Proteste stattfinden, im Süden und im Zentrum Perus, lebt das Gros der Wähler Castillos, die sich gegen die Absetzung und Inhaftierung ihres Präsidenten wehren und auf die Straße gehen. Es sind die Abgehängten, die seit Jahrzehnten ökonomisch in Peru benachteiligt werden und immer wieder rassistisch diskriminiert werden, die gegen ein Establishment protestieren, das vor allem im eigenen Interesse agiert und hyperkorrupt ist.

Interview

María Elena Foronda ist Direktorin der Umweltorganisation Natura aus Chimbote und ehemalige Abgeordnete des peruanischen Kongresses für die linke Frente Amplio (2016–2019). Die Soziologin und Umweltaktivistin sieht wenig Bereitschaft in den politischen Lagern zum Dialog – die massiven Konflikte drohen weiterzugehen.

Klingt, als ob sich die Bevölkerungsschichten erhoben hätten, die sich seit Jahren oder gar Jahrzehnten von der Politik nicht vertreten oder gar links liegen gelassen fühlen?

Der Eindruck ist richtig, denn es gibt in Peru vor allem im Süden des Landes in Städten wie Arequipa, Puno, Cusco eine wachsende Widerstandsbewegung gegen die hemmungslose Ausplünderung der Natur – gegen Bergbauprojekte wie Tía María, gegen skrupellose Bergbaukonzerne wie Antamina oder gegen Projekte wie Cerro de Pasto, wo eine ganze Stadt dem Bergbau weichen musste. Diese Ablehnung einer Politik, die rein kapitalistischen Motiven folgt, hat sich aufgestaut und die Demonstranten fordern heute drei Dinge: die Freilassung von Pedro Castillo und seine Rückkehr in den Präsidentenpalast. Ihre Begründung lautet: Seine Absetzung und Inhaftierung sei nicht legal gewesen. Die zweite Kernforderung ist die nach der Auflösung des Kongresses, da er keine politische Legitimation habe, die Abgeordneten eigene Interessen statt gesellschaftliche verfolgen. Das bestätigen alle Umfragen, die die Unterstützung für das Parlament bei zwei bis neun Prozent verorten. Die dritte Forderung ist die nach Neuwahlen im Juli dieses Jahres statt im kommenden Jahr, wie die amtierende Präsidentin Dina Boluarte angeboten hatte. Boluarte, die die blutige Niederschlagung der Proteste und die massive Polizeigewalt gerechtfertigt hat, ist für die Protestbewegung ohnehin untragbar.

Sind diese Forderungen realistisch, sind sie durchsetzbar?

Das ist die große Frage. Klar ist, dass es keine weiteren Toten geben darf. Wir sollten uns ein Beispiel an Brasilien nehmen, wo es trotz massiver politischer Gegensätze keine Toten gab. Hier sind es fast 50 Tote, und die peruanische Rechte legitimiert das mit dem Verweis, dass Guerilleros des Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) angeblich bei den Demonstrationen infiltriert gewesen seien. Das ist eine Behauptung in der Logik der Militärs, in der Logik der aus den USA stammenden Aufstandsbekämpfungsstrategie, demnach der Feind im Inneren steht – wieder sind es vor allem indigene Völker. Diesmal Aymaras, denen das Gros der 18 Toten von Juliaca, angehörten. Das ist Teil unserer Realität, und ich will sicherlich nicht die Gewalt auf Seiten der Demonstranten, die Flugplätze, aber auch Geschäfte stürmen, rechtfertigen. Diese Gewalt gehört verurteilt, aber hier sind nach wie vor repressive Strategien aus den 1980er und 1990er Jahren im Einsatz. Wir sollten demokratischen Normen folgen, und ich appelliere an internationale Organisationen, Menschenrechtsorganisationen, die Vereinten Nationen, befreundete Regierungen, das auch einzufordern.

Wie reagiert die Zivilgesellschaft, die katholische Kirche, Berufsverbände, Universitäten – es ist kein Geheimnis, dass der Kongress korrupt ist, die Regierung repressiv agiert?

Der Ruf nach Rücktritt der Präsidentin wird lauter, aber Frau Boluarte hat ihren Rücktritt weiter ausgeschlossen und den Ausnahmezustand auch über Lima für vorerst 30 Tage verhängt. Ein weiteres repressives Signal, denn nun darf die Armee eingreifen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, wie es heißt. Allerdings plädieren die katholische Kirche, Anwaltsverbände und mehrere Universitäten für ein Ende der Gewalt und für Verständigung. Den Vorschlag, eine Übergangsregierung zu installieren, die breiten gesellschaftlichen Rückhalt hat und strukturelle Reformen einleiten soll, halte ich für vernünftig. Entscheidend ist aber, wie sich der korrupte Kongress verhält und ob er den Weg frei macht für die überfällige Reform der Verfassung. Die ermöglicht es dem Kongress, den Präsidenten aufgrund sehr fadenscheiniger Gründe zu entlassen und das ist in den vergangenen Jahren mehrfach passiert. Zudem brauchen wir eine Reform der Wahlgesetzgebung, um die Gründung von Wahlplattformen, die den Interessen von einer oder mehreren Personen dienen, zu verhindern. In Peru ist die Politik zum Spielball einer korrupten, egoistischen Elite geworden – die Tochter von Ex-Diktator Alberto Fujimori, Keiko Fujimori und ihre Partei Fuerza Popular, sind dafür ein gutes Beispiel.

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