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- Ausnahmezustand in El Salvador
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Ein Dorf in El Salvador hat wegen des anhaltenden Ausnahmezustands eine Fußballmannschaft verloren
Dicke Regentropfen fallen auf die Wellblechdächer der Hütten und Häuser in Guarjila, eine Ortschaft im Norden von El Salvador, dem kleinsten Land Mittelamerikas. Carlos Tobar besucht Doña Margarita, die Mutter seines Freundes Francisco, den die Polizei vor einem halben Jahr festgenommen hat. »Sie kamen in Begleitung von Soldaten der Armee«, erinnert sich die Frau und kämpft mit den Tränen. »Es gab keinen Haftbefehl und keinen Hinweis auf eine Straftat. Trotzdem haben sie meinem Sohn Handschellen angelegt und ihn in ein Auto gestoßen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen und bekomme keine Informationen. Ich weiß nur, dass er mit vielen anderen in einer Zelle auf dem Boden schläft. Die Häftlinge bekommen nur wenig Nahrung. Viele werden krank, aber es gibt keine Medikamente.«
Seit zehn Monaten leben die Menschen in El Salvador in einem staatlich verordneten Ausnahmezustand. Nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, für die die berüchtigte Jugendbande Mara Salvatruchaverantwortlich gemacht wird, wies Präsident Nayib Bukele das Parlament an, einen dreißigtägigen Notstand auszurufen. Doch es blieb nicht bei dem einen Monat. Ein ums andere Mal wurden die Sondermaßnahmen verlängert. »Den Inhaftierten wird vorgeworfen, sie seien Terroristen, sie würden terroristischen Banden angehören«, sagt Doña Margarita. »Aber mein Sohn war Student an der Universität. Er hat nichts von dem getan, was ihm vorgeworfen wird. So ist das in den meisten Fällen.«
Die Regierung hat vier zentrale Grundrechte ausgesetzt: das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Briefgeheimnis, das Recht, innerhalb von 72 Stunden nach der Verhaftung einem Gericht vorgeführt und über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden, und das Recht auf juristischen Beistand und einen fairen Prozess. Gerechtfertigt wird all das mit dem Ziel, den Terrorismus zu bekämpfen. Die salvadorianischen Sicherheitsbehörden gehen von 80 000 Mitgliedern krimineller Banden aus, in diesem Land mit 7 Millionen Einwohnern. Seit Beginn des Ausnahmezustands wurden rund 60 000 Menschen verhaftet, meist ohne Beweise und ohne Aussicht auf einen angemessenen Prozess. Die Zahl der Häftlinge in den zuvor schon völlig überfüllten Gefängnissen hat sich weit mehr als verdoppelt.
Der 24-jährige Carlos Tobar hat heute mehr Angst vor der Willkür der Polizei als vor der Gewalt der Jugendbanden. »Als Grund für eine Festnahme reicht es schon, wenn du jung bist und arm. Beides gilt in dieser Gesellschaft als gefährlich. Irgendwelche Leute denunzieren dich. Sie sagen, du seist ein Bandenmitglied, auch wenn du nichts mit dem organisierten Verbrechen zu tun hast. Die Polizisten ermitteln überhaupt nicht. Sie glauben einfach den Worten der anonymen Anrufer und bringen dich ins Gefängnis. Viele Mütter wie Doña Margarita weinen um ihre weggesperrten Söhne, auf deren Einkommen sie angewiesen sind.«
Zwar wurde Doña Margarita eine Fallnummer mitgeteilt und der Namen des Pflichtverteidigers ihres Sohns, aber der Jurist hat keine Möglichkeit, mit seinen Klienten zu sprechen. »Die erste Anhörung vor einem Richter findet Wochen oder Monate nach der Verhaftung statt«, sagt die Mutter. »Und dann wird über Hunderte Angeklagte gleichzeitig verhandelt. Niemand kommt frei. Wir können nur hoffen, dass dieser Ausnahmezustand bald zu Ende geht. Zurzeit haben die Häftlinge keinerlei Rechte. Es ist, als wären sie keine Menschen.«
Mehrere Jugendliche, die in der Fußballmannschaft von Guarjila mitgespielt haben, befinden sich in Haft. Der junge Trainer Carlos Tobar ist frustriert: »Der Präsident sagt, er wolle die Jugendbanden in den gefährlichsten Regionen El Salvadors ausschalten. Aber hier in Guarjila war es nie wirklich gefährlich. Trotzdem werden seit Monaten immer mehr unschuldige Personen festgenommen.«
Carlos Tobar geht über einen Pfad aus Sand und Lehm zum Haus seiner Großeltern. In einem feuchten Gebüsch am Wegrand sammelt sein Großvater Reisig. Der alte Mann war während des salvadorianischen Bürgerkriegs vor 35 Jahren ein Kämpfer der linksrevolutionären Guerilla. »Jetzt bin ich sehr besorgt wegen dieses Notstandsregimes. Bisher wurden 30 Personen aus Guarjila ins Gefängnis gesteckt. Alles junge Leute. Bei manchen gab es wohl Gründe, sie einzusperren. Aber die meisten sind Jungs, die keine Probleme machen. Trotzdem wurden sie mitgenommen«, sagt Carlos Tobar und fügt hinzu: »Wenn die Polizisten kommen, um jemanden abzuholen, und die Person nicht im Haus seiner Familie finden, dann nehmen sie einfach einen Angehörigen mit, einen jüngeren oder älteren Bruder.«
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen klagen darüber, dass seit Beginn des Ausnahmezustands mindestens 80 Häftlinge gestorben seien, manche an Hunger, andere an Folter. »Ein Junge hier aus dem Dorf hat sein Leben verloren«, weiß Tobars Großvater. »Er hatte keinerlei Probleme mit dem Gesetz. Trotzdem haben sie ihn so sehr geschlagen, dass eine Rippe brach. Dann war er tot.«
Viele Menschen in Guarjila wollen gegen die Notstandsgesetze protestieren und Widerstand leisten. Aber sie haben Angst. »Einmal haben sie eine Versammlung organisiert«, erzählt Carlos Tobar. »Noch in derselben Nacht kam die Polizei und nahm drei Personen fest, die an dem Treffen teilgenommen hatten.« Tatsächlich sind solche Zusammenkünfte im Ausnahmezustand illegal.
Carlos Tobar geht zum Haus des Dorfschullehrers Carlos Quintanilla, der auch sein Lehrer war. Beide Männer begrüßen sich herzlich. Dann beginnt der Pädagoge, über die Notstandsmaßnahmen zu schimpfen: »Die Jugendlichen in den Gefängnissen haben keinerlei Kontakt zu ihren Familien. Null. Nach der Verhaftung wird den Eltern gesagt: ›Geht morgen in die Stadt Chalatenango. Dort müsst ihr weiße Kleidung kaufen, Strümpfe, Schuhe, Hemden, Hosen, alles in Weiß, weil es so sein muss. Und bringt ein Nahrungspaket mit, damit euer Häftling was zu essen hat.‹ Der Staat kommt nicht für die Kosten der Gefangenen auf. Die Familien müssen alles selbst zahlen, jeden Monat ein Paket. Aber sie können ihren Sohn nicht sehen und auch nicht mit ihm sprechen. Sie wissen nicht, ob die Pakete wirklich ankommen.«
Durch den Ausnahmezustand sind einige ländliche Ortschaften fast zu Geisterdörfern geworden. Ganze Siedlungen stehen leer. Es gibt kaum junge Männer und viel weniger Geburten. Guarjila wird zu einem Dorf der Alten. »Früher ging es hier fröhlich zu«, erinnert sich der Lehrer. »Die Älteren haben sich neben dem Bolzplatz getroffen, und die Jungen haben gespielt. Jetzt ist es still geworden. Alle haben Angst. Auch die Fußballmannschaft von Carlos existiert nicht mehr.«
Der Fußballplatz von Guarjila liegt nur hundert Meter vom Haus des Lehrers entfernt. Vor dem Ausnahmezustand kamen mindestens 15 Spieler zum Training. Heute kommen nur noch die drei oder vier Jüngsten. Der elfjährige Chavi schimpft: »Wir können nicht mehr richtig spielen. Die Mamas der Jungs lassen sie nicht raus, wegen dieses blöden Regimes. Sie haben Angst, dass die Polizei uns gefangen nimmt.«
Chavi weiß, dass auch sein Trainer Carlos Tobar Guarjila bald verlassen wird. Er wird einen Freiwilligendienst in Deutschland antreten. Im Rahmen eines Programms des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit wird er in Kooperation mit dem Welthaus Bielefeld in einem deutschen Kindergarten arbeiten.
Ein paar Schritte hinter dem Fußballplatz steht ein kleines Gebäude mit Wänden aus Lehmziegeln. In den Räumen sind mehrere Werkstätten untergebracht. In seiner Jugend ist Tobar oft hierhergekommen, um an einem Ausbildungsprogramm für Jugendliche teilzunehmen. An diesem Tag hat sich eine kleine Gruppe getroffen – fast alles Mädchen –, um eine Aktivität für die Kirmes des Dorfes vorzubereiten. So wollen sie etwas Geld für das Jugendprogramm einnehmen. Carlos sagt, zu Beginn des vergangenen Jahres seien viel mehr Jugendliche gekommen: »Es waren mal 20, 30. Jetzt sind es nur noch sechs oder acht.«
Die Sozialarbeiterin Reyna Morales engagiert sich ehrenamtlich für das Programm. Eines der Projekte nennt sich »Junge Entrepreneure konstruieren die Zukunft«. Es geht darum, neue Einkommensmöglichkeiten für Jugendliche zu schaffen, damit sie sich nicht den Banden anschließen. Als die alleinerziehende Mutter Carlos Tobar sieht, bittet sie ihn um Hilfe beim Aufbau eines Trampolins. »Ich kenne ihn von klein auf. Einer der Jungs, die er trainiert, ist mein elfjähriger Sohn. Der freut sich jede Woche auf das Training am Samstag. Aber jetzt kommt er immer enttäuscht nach Hause: ›Mami, wir konnten wieder nicht spielen, weil zu wenig Kinder gekommen sind.‹«
Reyna Morales handelt mit Haushaltswaren. Deshalb muss sie oft in die Hauptstadt fahren. Dort kennt sie Familien in Armenvierteln, deren Kinder nachmittags nie aus dem Haus gegangen sind, weil eine Jugendbande die Straßen kontrolliert hat. »Wer nicht bei ihnen mitmachen wollte, wurde getötet. Diese Familien haben kleine Geschäfte, mit denen sie gegen ihren Willen die kriminellen Strukturen finanziert haben.« Wer sich weigerte, den Banden eine Gebühr zu zahlen, dessen Laden wurde angezündet. Solche Erpressungen gibt es heute nicht mehr, weil viele Täter im Gefängnis sind. »Die Medaille hat zwei Seiten und ich habe Verständnis für beide. Ich als Mutter träume von einem Land, in dem mein Sohn rausgehen kann, ohne dass jemand versucht, ihn für eine kriminelle Bande zu rekrutieren, oder ihn zwingt, an einem Verbrechen teilzunehmen. Es gibt also Teile des Notstandsgesetzes, die ich als Mutter unterstütze.«
Eigentlich hilft Carlos dem Projekt gern. Aber in diesen Tagen fragt er sich, ob es vernünftig ist, weiter dort hinzugehen. Für ihn wäre es furchtbar, wenn er kurz vor seiner Abreise nach Deutschland noch inhaftiert würde: »Vielleicht habe ich mit der Freundin eines eifersüchtigen Typen gesprochen oder jemand ist neidisch auf mich oder will sich rächen. Es braucht nur eine anonyme Anzeige und schon werde ich abgeholt. Als junger Mensch in El Salvador fühle ich mich müde und ohne Energie.«
Aber Carlos gibt die Hoffnung nicht auf, dass es eines Tages besser werden wird. »Dann kann ich wieder Fußball spielen, mit der neuen Generation, denn die alten Freunde sind nicht mehr im Land. Hoffentlich wird die Gemeinschaft im Dorf irgendwann wieder so sein wie früher.«
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