- Wirtschaft und Umwelt
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Essen ist komplex
Die Grüne Woche bietet Anlass, über soziale Ernährungsstrategien zu debattieren
Wenn in diesen Tagen die Besucher*innen in die Berliner Messehallen zur Grünen Woche strömen, dann auch, weil es hier allerlei Köstliches zu kaufen gibt. Die Landwirtschaftsmesse ist eine Entdeckungsreise in eine Vielfalt, wie sie im Alltag nur selten auf den Tisch kommt. Zwischen ein paar wenigen Informationsveranstaltungen geht es hauptsächlich um eines: Konsum.
Die Agrarmesse ist damit ein Spiegel: Was heißt Ernährung in Deutschland? Hierzulande wird im europäischen Vergleich wenig Geld für Essen ausgegeben. Die »Kulturtechnik Kochen nimmt ab«, wie der grüne Agrarminister Cem Özdemir zur Eröffnung der Grünen Woche in Berlin sagte, gleichzeitig steigt die Zahl der Kochshows und Foodblogs. Aktuell werden Lebensmittel teurer, aber bei den Landwirt*innen kommt davon nicht mehr Geld an. Arme Menschen sind von privater Wohlfahrt abhängig, sie bekommen die überschüssigen Waren, die so auch noch »gerettet« werden.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium arbeitet an einer Ernährungsstrategie. Das Ziel: Alle Menschen sollen sich gute, nachhaltig erzeugte, gesunde Lebensmittel leisten können. Denn auch wenn generell ungern viel Geld für Essen ausgegeben wird, haben die letzten Preissteigerungen den Einkauf immens verteuert. Für arme Menschen ist das katastrophal. Zwar wird Ernährungsarmut in Deutschland nicht statistisch erfasst, doch rund zwei Millionen Menschen sind auf die Lebensmittelverteilung der Tafeln angewiesen, knapp 14 Millionen sind von Armut betroffen, Tendenz steigend.
Ein Vorschlag ist, die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse auf Null zu reduzieren. Agrarminister Özdemir ist dafür, Sozialverbände, Umweltverbände und Verbraucherschützer*innen unterstützen den Vorschlag. Vorgemacht hat das die spanische Regierung, die zu Jahresbeginn die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel wie Obst, Gemüse, Brot und Milch vorübergehend ausgesetzt hat. Da Fleisch und tierische Produkte jedoch nach den Richtlinien gesunder Ernährung reduziert werden sollen und deren Produktion zudem klimaschädlich ist, soll die Mehrwertsteuer hier steigen. Vertreter*innen der ökologischen Lebensmittelhandels gehen noch einen Schritt weiter und fordern einen verringerten Mehrwertsteuersatz auf Biolebensmittel. Das FDP-geführte Bundesfinanzministerium lehnt die Vorschläge bisher ab.
Damit sich alle Menschen fair und nachhaltig hergestelltes, gesundes Essen leisten können, ist eine der Forderungen des Bündnisses »Wir haben es satt«, das an diesem Wochenende zur jährlichen Demonstration in Berlin aufruft, »viel mehr Unterstützung für Armutsbetroffene«. Denn nicht selten werden die Forderungen nach höheren Erzeugerpreisen und nachhaltig produziertem Essen ausgespielt gegen den Zugang zu billigen Lebensmitteln. Doch schließt das eine das andere wirklich aus?
Seit den 1970er-Jahren haben Supermärkte in der Bundesrepublik die Versorgung übernommen, inspiriert von den Gebrüdern Karl und Theo Albrecht, die mit ihrem Discountmodell bereits zehn Jahre vorher begonnen hatten. »Lebensmittel waren ausreichend da und erschienen auf für den Verbraucher unbekannten Wegen in den Supermarktregalen«, schrieb Philipp Stierand, Autor und Blogger für kommunale Ernährungspolitik und Stadternährungsplanung, im Kritischen Agrarbericht 2016. Alles war verfügbar, bereits eingekocht, eingefroren und zunehmend auch verarbeitet. Das sparte Zeit und war günstig zu haben. Hinzu kam mit steigendem Wohlstand ein immer höherer Fleischkonsum.
Heute ist diese Entwicklung nicht länger unwidersprochen. Gerade verarbeitete Produkte schaffen Ernährungsprobleme wie Übergewicht, denn in vielen Produkten ist übermäßig billiges Fett und Zucker enthalten. Unverarbeitete Grundnahrungsmittel sind in den Regalen kaum noch zu finden. Dabei gibt es Möglichkeiten, auch mit wenig Geld gute Lebensmittel auf den Tisch zu bekommen. Doch zum selber gesund kochen braucht es Zeit. Etwas, das viele Menschen nicht haben, weil sie für wenig Geld immer mehr arbeiten müssen. Zu einer umfassenden Ernährungspolitik gehört demnach auch ein angemessener Lohn.
Gleichzeitig führt die hoch industrialisierte Landwirtschaft global zu immensen Umweltproblemen. Diese Kosten sind an der Supermarktkasse nicht einberechnet, sondern werden auf die Gesellschaft umgelegt. Zudem hat die wachsende Handelsmacht dazu geführt, dass Landwirt*innen extrem abhängig sind von den Bedingungen, die die großen Supermarktketten diktieren – stets mit dem Argument, die Verbraucher*innen wollten nicht mehr bezahlen.
Doch was ist mit denen, die nicht mehr bezahlen können? Die Schlangen vor den Tafeln sind in den vergangenen 20 Jahren ständig gewachsen, einen ersten großen Sprung gab es nach der Einführung von Hartz-IV. Den ALG-II-Bezieher*innen standen zuletzt 145,50 Euro für Lebensmittel zur Verfügung, mit dem neuen Bürgergeld ist es nur unwesentlich mehr. Das ist schon ohne Inflation zu wenig, um sich gesund zu ernähren. »Dass Menschen nur satt werden, kann kein angemessener Maßstab für Teilhabe und Integration in einem fortschrittlichen Sozialstaat sein«, schreibt Silvia Monetti von der Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen im aktuellen Kritischen Agrarbericht, der am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Die Ernährungsexpertin fordert nicht nur mehr Bürgergeld, sondern auch, dass EU-Gelder aus dem EHAP-Fonds in Deutschland für Nahrungsmittelhilfeprogramme ausgegeben werden. Diese Mittel stehen allen EU-Ländern zur Verfügung, in Deutschland werden sie vor allem für Beratungsangebote genutzt, während Spanien, Italien, Finnland oder Frankreich die Gelder für Nahrungsmittelhilfen verwenden.
Monetti spricht sich zudem für eine Ausweitung von öffentlich geförderter Gemeinschaftsverpflegung für Bedürftige aus. Ein Ansatz, der an Vorschläge zum Infrastruktursozialismus erinnert, wie ihn der Autor Alexander Behr im »nd«-Interview jüngst vorschlug: »Öffentlicher Nahverkehr, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kinderbetreuung gratis, günstige Mieten sowie eine günstige, gesunde öffentliche Kantinenversorgung. Damit wären weniger Bereiche des Lebens den Marktverhältnissen untergeordnet.« Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz fordert gemeinsam mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband: »In Gemeinschaftseinrichtungen, wie in Kitas, Schulen und Pflegeheimen muss eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung zum Standard werden und durch Sozialkassen und Steuermittel refinanziert werden.« Erste kommunale Ansätze gibt es hier. Was aber fehlt, ist eine Ernährungspolitik, die anerkennt, dass Deutschland in all seinem Reichtum ein Ernährungsproblem hat und die der Komplexität der Interessen gerecht wird, statt diese Fragen dem Handel zu überlassen.
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