Die Mütter aller Selfies

Uwe Schneedes Band »Ich – Selbstbildnisse in der Moderne« gibt einen kurzweiligen Überblick über bedeutende Künstlerporträts

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Schneedes Band über Selbstbildnisse ist wie ein Guckloch in die moderne Kunst.
Schneedes Band über Selbstbildnisse ist wie ein Guckloch in die moderne Kunst.

Der dreiteilige Titel schraubt die Erwartungen an das Buch stufenweise herunter. In Großbuchstaben prangt da zunächst das Pronomen »Ich«, woraufhin ein Ausrufezeichen den Eindruck gesteigerter Dringlichkeit hinterlässt: Das Individuelle will sich zum Ausdruck bringen. Es folgt der Untertitel »Selbstbildnisse in der Moderne«, der den umfangreichen Anspruch präzisiert und zugleich relativiert. Es geht hier nicht um Selbstbildnisse der Moderne, sondern nur solche in der Moderne. Man darf also keine profunde Kunstgeschichte erwarten, die sich an den Themen der Individualität wie der Moderne und ihrer jeweiligen Verquickung abarbeitet, sondern – viel bescheidener – einen informierten Rundgang. Dieser führt – wie der zweite Untertitel vermerkt – »Von Vincent van Gogh bis Marina Abramović«, also durch die letzten 150 Jahre, und will somit vom weit früher beginnenden Moderne-Begriff in den Disziplinen Geschichte oder Philosophie wenig wissen oder erzählen, konzentriert sich ganz auf den Ende des 19. Jahrhunderts beginnenden modernen Stil. Oder genauer: Auf die Akteure und Akteurinnen dieses Stils.

Denn Uwe M. Schneede, von 1991 bis 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle, interessiert sich mindestens ebenso sehr für das Bildnis wie für das Selbst, also für die Künstler, die er in seinem Band seinerseits porträtiert. Die Lebensläufe der Malerinnen und Maler rücken in den Vordergrund. Hier versammelte Werkinterpretationen laufen oft auf eine Entschlüsselung des jeweiligen Gemäldes durch den Abgleich mit biografischen Fakten hinaus.

So habe der noch nicht durchgesetzte Edvard Munch in früheren Selbstporträts seinen Stand in der Gesellschaft und im Kunstbetrieb thematisiert, während er in den späteren Einblicke in seinen Alterungsprozess gewährte. Damit sei »ein entscheidender Schritt vollzogen«, so Schneede, habe die nächste Künstler-Generation aus dieser »Konzentration auf die ganz persönlichen Nöte« heraus doch die »Vorstellung von der Unabhängigkeit der Künstlerpersönlichkeit« entwickelt.

Oftmals geht es in den kurzen Kapiteln argumentativ etwas hastig zu. Man darf schon fragen, ob die vorgestellten Selbstbildnisse tatsächlich in der Kunstgeschichte eine so herausragende Rolle spielen, wie von Schneede reklamiert, bekommt von ihm leider aber keine zufriedenstellende Antwort, weil auf schmalen 220 Seiten 25 Künstlerinnen und Künstler bedacht werden wollen.

Gerade von der Perspektive heutiger Debatten aus besehen äußerst interessant ist dagegen sein Hinweis, wie sehr die Konfrontation mit ethnologischen Sammlungen Malerinnen und Maler wie Pablo Picasso oder Paula Modersohn-Becker beeinflussten. Was als europäische Malerei galt und gilt, lässt sich so als eine Avantgarde neu betrachten, die erst im Kontakt mit dem Fremden und Anderen zu vermeintlich ganz neuen Ausdrucksmöglichkeiten fand.

An anderer Stelle wünschte man sich wieder detailliertere Erläuterungen. So ist Frida Kahlo zwar zweifelsohne eine politische Person gewesen (sie gewährte zum Beispiel Leo Trotzki Zuflucht), inwiefern man ihre Selbstporträts »womöglich« als »politische Herausforderungen« verstehen darf, erschließt sich jedoch weder bei erneuter Betrachtung der abgebildeten Werke noch durch Schneedes Ausführungen in überzeugender Weise.

Man muss sich immer wieder mit Andeutungen zufriedengeben und darauf vertrauen, dass der Autor seine These noch auf weiteren 50 Seiten hätte ausführen können, wofür hier aber kein Platz war. Der Autor will seine Leserschaft ersichtlich nicht überfordern, vielmehr kleine Einblicke in Werke gewähren, zu denen er teilweise bereits ganze Monografien vorgelegt hat. Und als ein solches Guckloch in die jüngere Kunstgeschichte ist der schön gestaltete, mit über 90 Abbildungen ausgestattete Band durchaus geeignet.

Im letzten Teil, wir nähern uns der Gegenwart, bekommen die Bilder dann noch einmal einen anderen Charakter. Waren sie zuvor mit den Kunstwerken identisch, können sie jetzt nur noch einen dokumentarischen Charakter für sich reklamieren. In Performances von Joseph Beuys oder Marina Abramović sind Fotos lediglich Beweise dafür, dass Kunst stattgefunden hat. Nicht allein in dieser Hinsicht hat der Begriff Selbstbildnis eine Bedeutungsverschiebung erfahren.

Stellte sich das Selbst zuvor als Modell in den Dienst des Werks, triumphiert es nun über dieses. Das Foto des Künstlers während der Performance dient der Legendenbildung, womit er in gewisser Weise medial über sein Schaffen hinauswächst. Das Ereignis selbst ist unwiederbringlich vergangen, die Spuren, die noch auf sie verweisen, zeigen eigentlich nicht mehr die Kunst, sondern nur mehr den Künstler. Von hier ausgehend wäre sicher ein Blick in die digitale Gegenwart von Interesse gewesen, hat sich doch längst der Begriff von der Instagram-Kunst etabliert und damit eine neue Gattung, die sich dezidiert der Bildwerdung und Inszenierung des Ichs verschreibt.

Dass Schneede, Jahrgang 1939, hier Zurückhaltung walten lässt, ist verständlich. Sein Buch könnte jedoch umgekehrt auch für jene jungen Netz-Künstler von Interesse sein, die sich über die Herkunft ihrer Darstellungsmittel vergewissern wollen.

Uwe M. Schneede: »Ich – Selbstbildnisse in der Moderne«. C. H. Beck, 240 S., geb., 29,95 €.

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