Unternehmertum gegen Obdachlose

Eine Welle repressiver Gesetze gegen wohnungslose Menschen rollt durch die USA

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn die Polizei mit der Durchsetzung der neuen Gesetze ernst macht, droht ein Krieg gegen die Obdachlosigkeit – ähnlich dem Krieg gegen Drogen. Das National Homelessness Law Center, eine juristische Hilfsorganisation für Obdachlose, berichtet, dass mittlerweile mehr als 100 Städte und Bundesstaaten in den USA Verbote gegen das Schlafen in Zelten, in Autos oder im Freien in ihre Gesetzbücher aufgenommen haben. Besonders im Westen und Süden kommen in diesen Tagen etliche neue Verbote hinzu.

So gilt zum Beispiel im Bundesstaat Missouri seit dem 1. Januar das Übernachten auf öffentlichem Land – etwa in Parks oder unter Brücken – als Vergehen. Das Kalkül der Gesetzgeber ist, dass die Obdachlosen sich anderswo hinbegeben. Doch Eric Tars, Direktor des Zentrums für juristische Beratung von Obdachlosen, berichtet der Zeitung »USA Today«, dass die Betroffenen keineswegs so mobil sind, um einfach weiterziehen zu können. »Die meisten obdachlosen Menschen sind, ganz im Gegensatz zu den gängigen Vorurteilen, obdachlos in der Gemeinschaft, in der sie einst Obdach hatten«, erläutert Tars.

Doch das Gesetz in Missouri geht noch weiter und schränkt jegliche bundesstaatliche Finanzierung für die dauerhafte Behausung von Mittellosen ein. Es orientiert sich dabei an einem Mustervorschlag des konservativen Thinktanks Cicero Institute in Texas. Aktivisten in St. Louis, der Hauptstadt Missouris, sind wegen des drohenden Finanzierungsstopps schockiert: Denn Obdachlose aus ländlichen Regionen kommen oft in die ressourcenreicheren Städte, die bereits vor den neuen Gesetzen überlastet waren. Insgesamt gibt es in den USA laut offizieller Zahl der Regierung in Washington rund 600 000 obdachlose Menschen, wie 2022 bekanntgegeben wurde. Vermutlich liegt die Zahl höher, zumal mit jeder Wirtschaftskrise noch mehr Obdachlose hinzukommen.

Der Bundesstaat Tennessee ging im vergangenen Juli noch weiter: Das obdachlose Schlafen auf staatlichem Land wurde dort zur Straftat. Das heißt, dass zu den Risiken der Obdachlosigkeit auch Vorstrafen und Gefängnis kommen. Bürgerrechtsorganisationen mahnten, dass ethnische Minderheiten und LGBTQ-Menschen besonders leiden würden, da sie bei den Obdachlosen überrepräsentiert seien. Auch in Georgia, Arizona, Oklahoma, Texas und Wisconsin wurde die Gesetzgebung auf bundesstaatlicher Ebene drastisch verschärft. Frappierend ist, dass die jeweilige Gesetzgebung oft eng an Vorschläge des Cicero Institute angelehnt ist.

Das Institut verspricht »unternehmerische Lösungen für öffentliche Probleme« und wurde im Jahr 2016 von dem Milliardär Joe Lonsdale gegründet. Lonsdale war mit Peter Thiel der Gründer der Firma Palantir, die Technologien für die elektronische Überwachung von Migranten, das Management von Informationen auf Schlachtfeldern wie in der Ukraine und in Polizeirevieren entwickelt.

In Georgia hat der Initiator der neuen Gesetzgebung, Senator Carden Summers, für seine Recherchen zum Problem der Obdachlosigkeit eine drastische Metapher gewählt: »Jede Nacht fahre ich eine halbe Stunde in Atlanta herum und zähle die Obdachlosen auf den Straßen, in den Ecken, auf Gehsteigen, unter Brücken, und wenn man nicht aufpassen würde und mit dem Auto von der Straße abkäme, würde man fast überall acht bis zehn Menschen töten«, erzählte er im Ausschuss des Senats in Atlanta.

Auch in der liberalen Stadt Portland in Oregon stimmte der Stadtrat im vergangenen November für ein Verbot des wilden Zeltens. Immerhin wurden einige Obdachlose seitdem in sechs städtischen Zeltlagern untergebracht, allerdings nur insgesamt 250 Personen. Zusätzlich sollen 20 000 Notunterkünfte gebaut werden, mit der Absicht, alle Obdachlosen zum Umzug in diese zu zwingen. Die American Civil Liberties Union schrieb daraufhin sofort einen offenen Brief, dass solche Bestimmungen nicht verfassungskonform seien und dass die Bürgerrechtsorganisation eine ähnliche Regelung in Phoenix erfolgreich richterlich habe blockieren lassen. Die neue Gouverneurin von Oregon, Tina Kotek, hat wegen des krisenhaften Anstiegs der Obdachlosigkeit in dem Bundesstaat unterdessen den Notstand ausgerufen.

In Los Angeles wurden bereits im vergangenen August die Restriktionen gegen Obdachlose erweitert. So wurden Zeltlager in der Nähe von Schulen und Kindergärten verboten, nachdem Eltern sich bei der Stadtverwaltung über die belegten Gehsteige auf den Schulwegen beklagt hatten. Die kalifornische Webseite »EdSource« behauptet jedoch, die Durchsetzung des Verbots werde in L.A. sehr lax gehandhabt.

Auch im sonnigen Kalifornien haben wegen der rasant zunehmenden Obdachlosigkeit mittlerweile etliche Bürgermeister den Notstand erklärt. In San Francisco, Austin (Texas) und Denver (Colorado) waren bereits während der Corona-Pandemie staatlich organisierte Zeltlager errichtet worden. Das Cicero Institute empfiehlt derweil nicht nur Strafgelder für Obdachlose, sondern auch für Städte, die nicht gegen die Obdachlosigkeit durchgreifen. Das liberale Amerika gerät mit diesen Entwicklungen gerade in einen epochalen Konflikt mit dem sozialen Notstand in der Gesellschaft.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.