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Keine Waffen an Bord
Drei-Länder-Kommission zur »Estonia«-Katastrophe legt Zwischenbericht vor
Mit 989 Menschen an Bord war die Fähre »Estonia« in der Nacht zum 28. September 1994 auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm gesunken; 852 Menschen kamen um. Über die Ursachen dieser größten zivilen Schiffskatastrophe in der Ostsee wird auch nach fast 30 Jahren spekuliert. Am Montag legten Experten aus Estland, Schweden und Finnland in Tallinn Zwischenergebnisse einer neuen Untersuchung der Unglücksursachen vor.
Sie fanden keine Hinweise für eine Explosion an Bord oder eine Kollision mit einem anderen Schiff. Damit bestätigen sie Theorien, wonach bei heftigem Seegang die schlecht gewartete und bereits beschädigte Bugklappe der »Estonia« abgerissen wurde und Wassermassen das Autodeck fluteten. »Wir kamen zu dem Schluss, dass das Schiff nicht seetüchtig war«, sagte der Leiter der estnischen Havariekommission, René Arikas. Die »Estonia« hätte keine Zertifizierung für den Passagiertransport erhalten dürfen. Jonas Bäckstrand, Vizechef der schwedischen Unfalluntersuchungsbehörde, sekundierte mit dem Argument, dass man heute unter »Seetüchtigkeit« etwas anderes verstehe als im Herbst 1994.
14 Jahre im Dienst auf der Ostsee
Damit befindet man sich nach Ansicht anderer Experten auf »sehr dünnem Eis«. Das in Estland registrierte Schiff war in Diensten anderer Reedereien 14 Jahre lang auf der Ostsee unterwegs. Gebaut auf der deutschen Meyer-Werft, erfüllte es alle geltenden Vorschriften. Die jüngste Untersuchung war eingeleitet worden, nachdem 2020 in einer Fernsehdokumentation Aufnahmen eines Tauchroboters veröffentlicht worden waren, die unter anderem ein vier Meter großes Loch im Rumpf auf der Steuerbordseite zeigten, das bislang nicht erklärbar war.
Es sieht so aus, als sei das Schiff »durch den Aufprall auf den Meeresboden beschädigt worden«, sagte Bäckstrand. Das Loch und weitere Schäden seien nun im Gegensatz zu früheren Untersuchungen sichtbar, weil sich das Wrack um 13 Grad gedreht habe. Die These stützt sich auf geophysikalische Bewertungen von Professor Martin Jakobsson, Experte für Meeresgeologie an der Universität Stockholm. Mithilfe von Computersimulationen wies er nach, dass die Kontur des Meeresbodens mit den entdeckten Schäden am Rumpf korrespondieren.
Seit dem Untergang der »Estonia« gibt es den Verdacht, dass die Fähre mit einem U-Boot kollidiert sein könnte. Oder dass heimlich transportierte militärische Güter ein Sabotagegrund waren. So gab es Mutmaßungen, russische Agenten hätten verhindern wollen, dass sensible Waffentechnologien im Westen landen. Die einstige estnische Sowjetrepublik wurde erst im März 1990 eine unabhängige Republik. Illegale Ost-West-Transaktionen waren in den Umbruchzeiten an der Tagesordnung. Geheimdienste vieler Staaten, angeblich auch der deutsche BND, sollen die »guten Dienste« Schwedens beim Waffenschmuggel genutzt haben.
Die Unfalluntersuchungskommission wies am Montag Theorien, laut denen die »Estonia« bei ihrer letzten Fahrt Waffen an Bord hatte, als Fantasien zurück. Doch bereits 2004 mussten die schwedischen Streitkräfte zugeben, dass die »Estonia« für geheime Militärtransporte genutzt wurde.
Zunächst gab man zwei Lieferungen Richtung Estland zu. Nachdem die schwedische Untersuchungskommission noch einmal beim Stockholmer Verteidigungsministerium nachgefragt hatte, erinnerte man sich dort an »eine Handvoll« Transporte für die Operation »Baltstöd«, ein Hilfsprogramm zur Unterstützung der baltischen Staaten.
Rekonstruktion des Unfallhergangs
Maßgeblich für die Rekonstruktion des Unfallhergangs sind indessen Lieferungen nach Schweden. Davon gaben die schwedischen Streitkräfte nichts preis, obgleich man betonte, entgegen bisherigen Gepflogenheiten Erkenntnisse des militärischen Nachrichtendienstes (MUST) offenzulegen. Sicher ist, dass es eine Vereinbarung zwischen Schwedens Streitkräften und dem Zoll für ein »vereinfachtes Abfertigungsverfahren bei der Einfuhr von militärischem Gerät« gab.
Bei früheren Untersuchungen hatte man auch die Positionen von Schiffen aufgelistet, die in der Nähe der »Estonia« waren. Zwei, die sich östlich der Unfallstelle befanden, sind angeblich noch immer nicht identifiziert.
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