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Lustige Idioten
Zwischen Sehnsucht und Quatsch: Die Neuköllner Oper in Berlin erzählt mit »Radioland« die Geschichte der Minirepublik Sealand – und einiges über den Wahnsinn der Gegenwart
Die Geschichte um Prinz Reuß und die Umsturzpläne seiner reichsbürgerlichen Komplizen ist von einer irritierenden Ambivalenz geprägt. Man liest von einer Verschwörung, einem Putschversuch gar, von Waffen und Elitesoldaten, sollte sich also vor Kreisen wie diesen fürchten. Doch wenn man dann noch weiterliest, von esoterischen Spinnern erfährt, von Starköchen, die Reichskantinen übernehmen wollen, oder von der Hoffnung auf eine Art völkerrechtliche Schirmherrschaft durch Wladimir Putin – dann kann man sich ein amüsiertes Grinsen doch schwer verkneifen.
Es ist insofern gegenwärtig und eskapistisch zugleich, ausgerechnet jetzt ein Musical über die Gründung einer Mikronation auf einer Flak-Insel in der Nordsee zu produzieren. Gegenwärtig, weil Paddy Roy Bates, auf dessen Geschichte das Stück »Radioland« lose beruht, als ein durchaus erfolgreicher Aussteiger gelten kann, der zwar als gebürtiger Engländer vermutlich nichts vom Fortbestand des Deutschen Kaiserreichs wissen wollte, doch seine 1967 als »Fürstentum Sealand« ausgerufene Mikronation gemeinsam mit seiner Familie immerhin jahrzehntelang zu verteidigen wusste. Er könnte also ein Vorbild auch für all jene politischen Fantasten sein, die auf den Balkonen ihrer Fertighäuser ein selbst genähtes Reichsbanner hissen.
Eskapistisch ist das Unternehmen gleichwohl, weil dieses Musical noch etwas deutlicher dem Unsinn zuneigt, als es der reale Irrsinn hergibt, und so, auf durchaus wohltuende Weise, im gemütlichen Saal der Neuköllner Oper in Berlin, das Politische ganz dem Humor zugeschlagen wird. Eben so, als wäre es keine groteske Neuerung, dass eine Gefährdung der Verfassung von lustigen Idioten ausgeht, sondern als wäre die politische Militanz selbst eine Art Unterhaltungskunst, die nur unfallweise auch gewalttätige Folgen zeitigt.
Dass die Flak-Insel vor der Staatsgründung, also zu Beginn des knapp zweistündigen Abends, noch Sitz eines Piratensenders ist, passt da gut ins Bild. Die Musiker (E-Bass, E-Gitarre, Klavier, Cello und Kontrabass, Synthesizer und Schlagwerk) sitzen eine Ebene über der Bühne, mit Pilzkopfperücken auf den Häuptern. Hin und wieder gibt die Familie Bates ihnen die Anweisung zu spielen, nennt sie dann »Schallplattenunterhalter«. Die Familie selbst wären: der cholerische Kriegsveteran Paddy Roy Bates, seine stets überaphrodisierte Ehefrau (die Eltern sind cross-gender besetzt), die hochsensible Tochter (und spätere Chefideologin) sowie der doofe, treue, doch vor allem treudoofe Sohn.
Ihnen allen geht das Geschäftsmodell verloren, als die BBC beschließt, auch Popmusik zu spielen. Die Gründung einer eigenen Nation winkt nun als Rettung aus dem finanziellen Ruin, was als (gelungener) ideenpolitischer Scherz goutiert werden möchte: Die Ideologie dient als Ersatz des täglichen Brots. Es ist selbstredend eine Ideologie der Freiheit: »E mare Libertas« lautet die Losung des neu gegründeten Staates Sealand, dessen ganz und gar wirtschaftsferner Liberalismus bald jedoch – wir nähern uns geschichtlich im Stück wie auch weltgeschichtlich der Regierungszeit Margaret Thatchers – von einem internationalen Konsortium übernommen werden soll.
Die Eltern verlassen, wohl doch nicht ganz so frei von den Verlockungen festländischer Annehmlichkeiten, auf Einladung eines windigen Geschäftsmannes ihre Insel, woraufhin dieser Sealand kurzerhand besetzt. Hochverrat auf hoher See also, Meuterei und Rebellion! Die Familie muss sich nun nicht nur gegen die drohende Staatenlosigkeit zur Wehr setzen, sondern auch ihre eigenen Maßstäbe überprüfen: Was ist wichtiger? Abwechslung auf dem Speiseplan (endlich mal was anderes auf dem Teller als Hummer?) oder ein ganz und gar selbstbestimmtes Leben?
Die Autoren Fabian Gerhardt (der auch Regie führte) und Lars Werner reichern die reale Familiengeschichte noch um einige skurrile Spitzen an und geben das Ergebnis vertrauensvoll in die Hände eines ebenso konzentrierten wie spielfreudigen Ensembles. Gelungene Komik beruht zu großen Teilen auf Disziplin. Man muss seine Stimme, Mimik und Gestik schon bestens beherrschen können für Slapstick, man braucht viel Gefühl für Timing, um überzeugend in Gummistiefeln über die Bühne zu tollpatschen. Die Komposition (Misha Cvijović und Christopher Verworner) wirft die Spieler wie Wellen mal in Richtung Rock ’n’Roll, mal ins Psychedelische, spült den vereinsamten Bruder in einem traurig-schönen Duett auch mal zurück in die Arme der Schwester. So groß wie die Nordsee, so groß sind auch die Sehnsucht und der Quatsch an diesem Abend.
Nächste Vorstellungen: 2., 3., 4. und 5.2. www.neukoellneroper.de
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