Tödliches Marktversagen

In der EU sind viele Arzneimittel knapp, doch die zuständigen EU-Behörden bleiben untätig

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Frankreich schlägt Alarm: In einem der reichsten Industrieländer der Welt sind die gängigsten Medikamente nun Mangelware. Die staatliche Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten (ANSM) listet rund 210 Arzneien auf, die zurzeit nicht mehr oder nur schwer erhältlich sind. Wie das französische Magazin »Connexion« am Wochenende berichtete, sei mittlerweile das wohl wichtigste Antibiotikum Amoxicillin in vielen Apotheken nicht mehr vorrätig. »Insbesondere die für Kinder geeigneten Dosen«, schreibt »Connexion«. Auch das Schmerz- und Fiebermittel Paracetamol sei kaum noch verfügbar.

Dabei wird ein Großteil der in Europa verkauften Paracetamol-Tabletten und des entsprechenden Sirups in Frankreich hergestellt. Allein der Sanofi-Konzern produziert an seinem Standort im nordfranzösischen Lisiuex mehr als eine Million Packungen des Paracetamol-Mittels »Doliprane« pro Tag. Doch nicht immer laufen die Maschinen auf Hochtouren. Denn wie viele andere Unternehmen in der EU ist auch Sanofi »auf chemische Grundstoffe angewiesen, die seit 2008 nur noch in Ländern mit niedrigen Lohnkosten, darunter China und Indien, hergestellt werden«, so »Connexion«.

Europa hat nicht nur seine schmutzige Textilindustrie nach Asien verlagert, sondern auch die ebenso umweltschädliche Produktion von Grundstoffen für die Pharmaindustrie. Antibiotika etwa werden in Indien hergestellt. »Rund um Fabriken in Indien, wo fast alle großen Pharmakonzerne produzieren lassen, sind große Mengen an Antibiotika in der Umwelt. So entstehen gefährliche, resistente Erreger, die sich global ausbreiten«, berichtete die Tagesschau bereits 2019. Tatsächlich ist die Auslagerung der Produktion ein Problem, das die EU-Kommission längst angehen wollte. Erklärtes Ziel Brüssels ist eine »strategische Autonomie bei Arzneien«, um Importabhängigkeiten zu reduzieren.

Dazu hat sie 2021 die EU-Generaldirektion für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) gegründet. Die Behörde soll Abhängigkeiten identifizieren und die Produktion gegebenenfalls nach Europa zurückholen. Doch das wäre mit hohen Kosten verbunden. »Jede Initiative zur Rückverlagerung von Produktion muss daher das Spannungsverhältnis auflösen, das zwischen (Fest)preisen für Arzneimittel, dem Gebot ihrer Bezahlbarkeit und den höheren Produktionskosten in Europa besteht. Dazu sind staatliche Eingriffe in den Markt nötig«, urteilt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik in einer aktuellen Analyse.

Zu den gestörten Lieferketten kommen in diesem Winter schwere Erkältungswellen, die auf Menschen treffen, deren Immunsystem durch die coronabedingten Lockdowns weniger widerstandsfähig ist. Das führt zu einer größeren Nachfrage nach bestimmten Arzneien. Wie brisant die Lage ist, zeigt eine Umfrage des europäischen Apothekenverbands PGEU. Der Verband konstatiert eine »hohe Arzneimittelknappheit in den meisten europäischen Ländern, die sich im Vergleich zum letzten Jahr in den meisten Ländern erheblich verschärft hat«. Mehr als 600 Medikamente seien demnach Mangelware. Pharmazeuten aus vier Ländern gaben an, dass es aufgrund der Mangellage zu Todesfällen gekommen sei. Etwa in Finnland, wo ein psychisch Erkrankter Selbstmord beging, weil das entsprechende Medikament nicht mehr verfügbar war. Einige EU-Staaten wie Griechenland untersagten gar die Ausfuhr von bestimmten Arzneimitteln.

Doch die zuständigen EU-Stellen reden das Problem klein. Etwa die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), deren Steuerungsgruppe für Arzneimittelknappheit sich am vergangenen Donnerstag traf, um den EU-weiten Antibiotika-Mangel zu diskutieren. Weil man bei der EMA glaubt, dass die Engpässe bald überwunden sein werden, stufte man den Mangel nicht als »schwerwiegendes Ereignis« ein. Denn das hätte die HERA zum Handeln gezwungen.
Die EU-Behörde muss in einer Notlage »die Entwicklung, Herstellung und Verteilung von Arzneimitteln« sicherstellen. Dafür darf sie auch in den Markt eingreifen. Doch auch davor scheut die EU zurück.

Dabei hat die Kommission selbst erkannt, dass der Markt es nicht regelt. In ihrer im November 2020 veröffentlichten Arzneimittelstrategie ist zu lesen, dass die Konzerne nicht immer in die Medikamente investieren, die vordringlich gebraucht würden. Zudem würden die Entscheidungen der Pharmafirmen dazu führen, dass bestimmte Medikamente nicht erhältlich sind. »Das Geschäftsmodell hat sich vom Verkauf von Blockbustern auf die Vermarktung von Nischenbustern verlagert«, heißt es in dem Papier. Weil mit Fiebersäften und Antibiotika kaum noch Geld zu verdienen ist, verlegten sich die Konzerne auf teure Spezialprodukte. Und die EU schaut zu.

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