- Wirtschaft und Umwelt
- Inflation in Japan
Nippons Antwort auf die Inflation
Selbst Wirtschaftsverbände fordern in Japan Lohnsteigerungen
Die Worte, die Masakazu Tokura jüngst wählte, klangen fast schon historisch: »Wir fordern unsere Mitglieder dazu auf, den Trend zu steigenden Löhnen, den wir sehen, als Teil ihrer sozialen Verantwortung zu betrachten. Wir erwarten von ihnen, dass sie dabei besonders auf die Preisentwicklungen achten.« Wohlgemerkt: Masakazu Tokura ist nicht etwa ein Gewerkschaftsführer, sondern Vorsitzender von Keidanren, dem führenden Industrieverband Japans. Und dieser gelobt nun also, die Löhne anzuheben.
In Japan, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, sind nennenswerte Lohnerhöhungen schon länger erwartet worden. Derzeit liegt die Inflationsrate offiziellen Zahlen zufolge bei rund vier Prozent. Das ist zwar noch gering im Vergleich zu den jüngsten Werten aus den USA oder der EU, markiert in Japan aber den höchsten Wert seit 41 Jahren und das Doppelte des von der Zentralbank angestrebten Wertes von zwei Prozent Preissteigerung. Außerdem fällt, wie anderswo, bis auf Weiteres das Reallohnniveau.
In dem ostasiatischen Land ist dieses Thema besonders heikel, denn es begleitet die Menschen seit Jahrzehnten immer wieder. Größere Reallohnzuwächse hat Japan gesamtwirtschaftlich schon lange nicht mehr erlebt. Im November sanken die Reallöhne inmitten steigender Energiepreise und bei einem gesunkenen Außenwert des Yen um 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es war der stärkste Reallohnverlust seit acht Jahren, als eine Mehrwertsteuererhöhung für einen ähnlichen Effekt gesorgt hatte.
Deutliche Zuwächse liegen schon sehr lange zurück. Seit Anfang 1990 eine riesige Spekulationsblase platzte und ein zuvor jahrelanger Boom ein jähes Ende fand, sind nicht nur die einstigen Wachstumsraten bei der Wirtschaftsleistung nie wieder erreicht worden. In absoluten Zahlen stagniert die Volkswirtschaft seither weitgehend. Es begann auch eine Ära der Lohn- und Einstellungszurückhaltung. Die Arbeitsbedingungen sind zusehends prekärer geworden, rund ein Drittel der Arbeitsbevölkerung hat heute keine Festanstellung.
Vor diesem Hintergrund haben die ökonomischen Folgen des Ukraine-Krieges Japan in besonderem Maße getroffen. Entsprechend hat zuletzt Premierminister Fumio Kishida persönlich den Privatsektor aufgefordert, die Löhne anzuheben, damit die Kaufkraft der Menschen nicht allzu sehr leidet. Beachtlich dabei ist nicht, dass sich ein Regierungschef auf diese Weise an die Wirtschaft richtet, sondern dass dieser Appell nun Wirkung zu zeigen scheint.
Als vor gut zehn Jahren Shinzo Abe zum Premierminister gewählt wurde, gelang dies nicht. Dessen »Abenomics« getaufte Strategie – eine Kombination steigender Staatsausgaben, zusätzlich gelockerter Geldpolitik und wachstumsfördernder Strukturreformen – sollte eine neue Boom-Ära bringen. Konkret hatte er dabei auf steigende Preise gesetzt, womit die Sparneigung von Unternehmen reduziert und die Investitionslaune aufgemuntert werden sollte. Am Ende sollten steigende Löhne stehen. Doch das Versprechen blieb uneingelöst.
Nun sieht die Sache etwas anders aus, der Krieg und die noch deutlich höhere Inflation offenbaren eine neue Dringlichkeit. »Viele Menschen stecken in Schwierigkeiten wegen der Corona-Pandemie und der steigenden Preise«, betonte Tomoko Yoshino, Präsidentin des japanischen Gewerkschaftsbunds, dieser Tage. »Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten zusammenarbeiten, um dies zu einem Wendepunkt zur Zukunft Japans zu machen.« Yoshino fordert Lohnerhöhungen von fünf Prozent. Keidanren will dies prüfen. Insgesamt mehr als die Hälfte der Betriebe will die Gehälter anheben.
Dass damit eine neue Ära steigender Gehälter beginnt, lässt sich allerdings noch nicht sagen. Keidanren repräsentiert vor allem exportorientierte Großunternehmen. Ein Großteil der Arbeitsbevölkerung im Land ist jedoch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt, die über die vergangenen Jahre meist wenig am internationalen Handel verdient haben. In einer Umfrage der Johnan-Shinkin-Bank und der Zeitung »Tokyo Shimbun« gaben fast 73 Prozent dieser Unternehmen an, die Löhne nicht erhöhen zu wollen.
Die maßgeblich am Binnenmarkt orientierten kleineren Betriebe haben schließlich umso mehr mit jenen Herausforderungen zu kämpfen, die seit Jahrzehnten die gesamte Volkswirtschaft beschäftigen. Inmitten der alternden und schrumpfenden Bevölkerung im Land nimmt Jahr für Jahr die Zahl von Erwerbstätigen sowie Konsumenten ab.
So zeichnet sich in Japan, wo man bisher stolz auf die relativ kleinen Einkommensunterschiede war, ein weiteres Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich ab. Unter den Industriestaaten befindet sich Japan mittlerweile im Drittel mit der höchsten Ungleichheit. Premier Kishida hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass die Kluft nicht noch größer wird. Mit bloßen Aufforderungen an die Industrie wird dies aber wohl nicht gelingen.
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