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Nord Stream: Biden unter Verdacht
Wer sprengte die Nord-Stream-Pipelines? US-Enthüllungsreporter beschuldigt Washington
Seymour Hersh war nie hinter schnellen Storys her. Doch was der US-Journalist recherchierte, machte in der Regel Schlagzeilen. Und das weltweit. Er deckte während des Vietnam-Krieges das Massaker von My Lai auf, machte die Folter durch US-Soldaten im Abu-Ghuraib-Gefängnis während des Dritten Golfkrieges öffentlich.
Nun packte er ein anderes heißes Eisen an: die Sprengung der beiden Nord-Stream-Ostsee-Pipelines am 26. September 2022. Hersh macht die USA dafür verantwortlich: Im vergangenen Juni, so ist zu lesen, hätten US-Marinetaucher im Rahmen der Nato-Übung »Baltops 22« Sprengsätze an den Röhren angebracht. Die Anweisung sei von ganz oben gekommen.
Um es vorwegzusagen, die offiziellen Reaktionen in Washington sind eindeutig. Was die 85-jährige Reporterlegende behauptet, sei »völlig falsch und eine vollkommene Erfindung«, erklärte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson, am Mittwoch. Ein Sprecher des Auslandsgeheimdienstes CIA erklärte: »Diese Behauptung ist völlig und vollkommen falsch.«
Kritiker sprechen von Verschwörungstheorie
Unter der Hand macht man Stimmung gegen den Autor. Von Verschwörungstheorie ist die Rede. Hersh lege keine Dokumente vor, stütze sich nur auf eine Quelle und halte die auch noch geheim. Ganz verwerflich: Der Artikel spiele den Russen in die Hände, denn natürlich berichten auch Moskauer Medien über die neuen Aspekte des Verbrechens, das unter der Oberfläche der Ostsee geschah.
Hersh schreibt: Die Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden zur Sabotage der Pipelines, sei »nach mehr als neun Monaten streng geheimer Debatten innerhalb der nationalen Sicherheitsgemeinschaft in Washington« getroffen worden. Dabei sei es die meiste Zeit nicht um die Frage gegangen, »ob die Mission durchgeführt werden sollte, sondern darum, wie sie durchgeführt werden könnte, ohne dass offenkundig wird, wer dafür verantwortlich ist«.
In dem Artikel werden ausführlich die Vorgeschichte des Anschlags und damit die politischen und wirtschaftlichen Vorbehalte der USA gegenüber dem europäischen Gasprojekt geschildert. »Solange Europa von den Pipelines für billiges Erdgas abhängig blieb, befürchtete Washington, dass Länder wie Deutschland zögern würden, die Ukraine mit dem Geld und den Waffen zu versorgen, die sie bräuchte, um Russland zu besiegen.«
Biden wollte Nord Stream schließen
Erinnert wird an Bidens Versicherung vor der Presse, dass es im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine »kein Nord Stream 2 mehr geben (werde). Wir werden dem ein Ende setzen.« Unmittelbar vor dieser Aussage hatte Biden im Weißen Haus den neuen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßt und festgestellt, dass der »nach einigem Wackeln nun fest auf der Seite der Amerikaner stand«. Das war am 7. Februar, drei Wochen vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Eine Arbeitsgruppe unter Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan arbeitete demnach an Plänen. »Die Marine schlug vor, ein neu in Dienst gestelltes U-Boot einzusetzen … Die Air Force diskutierte den Abwurf von Bomben … Die CIA vertrat die Ansicht, dass der Angriff in jedem Fall verdeckt erfolgen müsse.« Allen Beteiligten sei klar gewesen, was auf dem Spiel stand. »Das ist kein Kinderkram«, sagt Hershs Quelle. Wenn der Angriff auf die Vereinigten Staaten zurückgeführt werden könnte, »wäre das eine Kriegshandlung«.
CIA behauptet, die Mittel zur Sprengung zu haben
Anfang 2022 habe die CIA erklärt: »Wir haben eine Möglichkeit, die Pipelines zu sprengen.« Der Plan sei plötzlich von einer verdeckten Operation, die eine Unterrichtung des Kongresses erfordert hätte, zu einer als streng geheim eingestuften Geheimdienstoperation mit militärischer Unterstützung herabgestuft worden. Nach dem Gesetz, so die Quelle, gab es also »keine rechtliche Verpflichtung mehr, den Kongress über die Operation zu informieren«.
Man habe Norwegen zum Ausgangspunkt der Operation gewählt. Die norwegische Marine fand schnell die richtige Stelle in den flachen Gewässern der Ostsee, nur wenige Meilen vor der dänischen Insel Bornholm. Einige hochrangige Beamte in Dänemark und Schweden seien »in allgemeiner Form über mögliche Tauchaktivitäten in dem Gebiet« unterrichtet worden.
Mit der Durchführung der Operation beauftragte man – so Hersh – Absolventen einer in Panama City angesiedelten Tiefseetauchergruppe der US Navy. Sie sollte die Ladungen während der Baltops-Übung – an der auch 700 deutsche Soldaten mit zahlreichen Schiffen, Booten und Flugzeugen beteiligt waren – anbringen und mit einem Zeitzünder für 48 Stunden versehen.
Sprengung via Boje?
Doch im Weißen Haus habe man diese Verzögerung für zu kurz gehalten, man hätte zu leicht US-Einheiten als mögliche Verursacher der Explosionen ausgemacht. Eine neue Methode sei erdacht worden, mit der die Bomben zu einem beliebigen Zeitpunkt durch ein elektronisches Signal gezündet werden konnten. »Am 26. September 2022 warf ein P8-Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine bei einem scheinbaren Routineflug eine Sonarboje ab.« Die sendete das Signal. »Unmittelbar nach dem Bombenanschlag auf die Pipeline behandelten die amerikanischen Medien den Vorfall wie ein ungelöstes Rätsel. Russland wurde wiederholt als wahrscheinlicher Schuldiger genannt, angespornt durch kalkulierte Indiskretionen aus dem Weißen Haus.«
Das ist – zusammengefasst – die Story, die Seymour Hersh erzählt. Sie würde erklären, warum dänische, schwedische und deutsche Ermittler so schmallippig reagieren, wenn sie nach Ergebnissen gefragt werden, und warum Fragen von Bundestagsabgeordneten mit dem Hinweis auf die »Interessen Dritter« unbeantwortet bleiben. Nun ist es am Generalbundesanwalt, der die deutschen Ermittlungen leitet, die richtigen Fragen zu stellen. An wen? Hersh nennt zahlreiche Namen aus den gehobenen Kreisen der US-Politik.
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