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Zwischenstopp in Nikosia
In Zypern kommen derzeit viele Geflüchtete an. Bleiben wollen aber nur wenige
Esele schließt das Rasiermesser und streut Talkumpuder auf Johns frisch rasiertes Gesicht, das er aufmerksam im Spiegel betrachtet. Durch das Fenster nickt Daniel ihm zustimmend zu: »Das sind gute Friseure«, sagt er. »Ich war gerade erst vor zwei Minuten dort«, während er sich mit einer Hand über seinen Hinterkopf streicht. Blessing und Ibrahim necken ihn. »Sei nicht so eitel!«, rufen sie ihm von einer Bank aus zu. Alle vier kommen aus Nigeria, sind Mitte 20 und erst kürzlich in Zypern angekommen.
Das »Dignity Centre« in der Altstadt von Nikosia ist für sie ein wichtiger Anlaufpunkt. Blessing ist gekommen, um ihre Einkäufe zu erledigen: »Hier gibt es jeden Tag einen Markt, man kann sich aussuchen, was einem gefällt.« Sie lachen viel und reden unentwegt über die Zukunft. »Ich will nach Italien«, sagt Blessing, »nach Neapel, da ist es schön, und dort habe ich schon viele Freunde.« Aber sobald man die beiden fragt, wie die Dinge in Zypern laufen, werden sie wortkarg und antworten mit einem lapidaren »Na ja«.
Am Abend, als es schon dämmert, ist der zentrale Busbahnhof auf dem Solomou-Platz in Nikosia voller ausländischer Arbeiter. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen in Arbeitshosen und Sicherheitsschuhen, die mit Farbe und Kalk bespritzt sind. Nicht weit entfernt, im vierten Stock eines Gebäudes, sitzt Corina Drousiotou an ihrem Schreibtisch im Büro des Flüchtlingsrates, den sie koordiniert. »Zypern hat nur eine kleine Bevölkerung«, erzählt die 46-Jährige. Gerade einmal 1,2 Millionen Menschen leben in der Republik. »Seit 2004 hat es immer wieder Phasen gegeben, in denen viele Migranten angekommen sind.« Im vergangenen Jahr wurde ein Höchststand verzeichnet: Mehr als 20 000 Menschen erreichten die Insel, die das Land vor Herausforderungen stellen.
Das Zentrum in der Altstadt öffnet in einer halben Stunde. Ungefähr 20 Leute stehen schon vor dem Eingang und warten auf Einlass. »Hier erhalten Asylsuchende Zugang zu Arbeit und Sozialhilfe«, erklärt Hélène Verdickt aus Luxemburg. Die Geflüchteten erhalten bereits einen Monat, nachdem sie einen Asylantrag gestellt haben, eine Arbeitserlaubnis. »Wir helfen den Menschen auch dabei, ihren Lebenslauf zu schreiben und die Arbeitserlaubnis zu beantragen.« Die 27-Jährige ist stellvertretende Koordinatorin von Refugee Support, einer Nichtregierungsorganisation, die das Zentrum betreibt.
Dawood und Rahman, zwei Afghanen in den Dreißigern, kamen mit dem Bus aus Limassol an. »Ich würde eigentlich gerne Jiu-Jitsu-Lehrer werden«, sagt der Erste, »aber Asylbewerber sind nur für bestimmte Berufe zugelassen.« Auf dem Tisch liegt die offizielle Liste mit den Jobs, die sie ausüben dürfen, und die Auswahl ist begrenzt. »Ich habe schon immer als Buchhalter gearbeitet und keine andere Berufserfahrung«, erzählt Rahman. »Als Kellner habe ich es versucht, aber ohne Praxiserfahrung haben sie mich nach drei Tagen ohne Bezahlung wieder weggeschickt.« Obwohl er wusste, dass er dafür nicht berufen ist, musste er das Angebot annehmen. »Wenn wir einen Job ablehnen, werden wir von den Leistungen ausgeschlossen.« In Limassol, der Hafenstadt an der Südküste, gibt es keine Einrichtungen, die Flüchtlinge unterstützen. Und die Beratung durch die staatlichen Ämter sei unzureichend, erklärt Rahman. »Deshalb kommen wir nach Nikosia.«
Dawood legt Schokoladencreme in seinen Korb. »Das Konzept des Ladens konzentriert sich darauf, dass Einzelpersonen und Familien wählen können, was sie wollen«, erklärt Paul Emery, ein 65-jähriger britischer Freiwilliger. »Jeder hat eine Karte und kann sich hier einmal pro Woche kostenlos versorgen. Jeder Preis für jedes Produkt wird in Punkten angegeben. Die wöchentlichen Ausgaben dürfen einen bestimmten Wert nicht überschreiten.« In den Regalen stehen vor allem Grundnahrungsmittel – Tomatensoße, Nudeln und Reis, Kartoffeln, Zwiebeln und Öl. »Viele nehmen Konserven mit und das, was sie nicht kochen müssen, weil sie keinen Zugang zu einer Küche haben.«
Auf der Straße sind noch immer Menschen, die darauf warten, hineinzukommen. »Mit dem Markt bieten wir jenen, die das Erstaufnahme- und Registrierungszentrum in Pournara verlassen haben, fünf Wochen lang Unterstützung an«, sagt Hélène Verdickt, als sie die Tür zur Straße öffnet. Es sei zwar schwierig, in dieser Zeit stabile Beziehungen aufzubauen. »Aber wir versuchen, so viele Menschen wie möglich in ihrer größten Not zu unterstützen.«
»Die Arbeit, die ihr hier macht, ist wichtig«, meint Salieu Gbla, ein 29-jähriger Asylbewerber aus Sierra Leone. Er schaut vom Computerbildschirm auf. »Die Auswahl hier im Markt gibt dir ein bisschen Normalität.« Er verließ Sierra Leone 2020, weil dort die LGBT- und Behinderten-Community gewaltsam aus dem Land vertrieben wurde. Er selbst und viele seiner Freunde wurden geschlagen und verhaftet. Seit zwei Jahren lebt er nun schon auf Zypern. »Noch immer haben sie meinen Asylantrag nicht bearbeitet«, sagt er. Die Aussicht auf ein Bleiberecht ist für ihn, der eine körperliche Behinderung hat, nicht besonders groß, weil diese nicht als Asylgrund anerkannt wird. Salieu Gbla hatte als Kind schwere Beinprobleme und seitdem motorische Schwierigkeiten. »Man muss hier arbeiten, wenn du das nicht kannst, bleibst du zu Hause eingesperrt.«
Um an dieser trostlosen Situation etwas zu ändern, hat er im Juli 2022 die Inklusive Gesellschaft für Menschen mit Behinderung ins Leben gerufen. »Es ist die erste Vereinigung, die sich mit unseren Problemen befasst«, sagt er. »Das ist notwendig, weil niemand jemals über unsere Situation spricht.« Im Herbst hat Salieu Gbla ein Informatikstudium an der Universität Nikosia begonnen und erhielt ein Stipendium.
»Die Teilung der Insel hat direkte Auswirkungen auf die Situation der Migranten und auch auf das Asylverfahren«, erklärt Corina Drousiotou. Seit 1974 ist Zypern de facto in zwei staatliche Einheiten geteilt, die durch die Grüne Linie voneinander getrennt sind. Im Süden liegt die Republik Zypern, die zwar Teil der Europäischen Union ist, aber nicht zum Schengen-Raum gehört. Im Norden liegt die Türkische Republik Nordzypern, die nur von der Türkei anerkannt wird und von der Republik Zypern als besetzt betrachtet wird. Nach offiziellen Angaben kamen 80 Prozent der irregulären Einreisenden in den Süden im Jahr 2021 über die Grüne Linie.
»Viele kommen mit dem Flugzeug mit Studien- oder Arbeitsvisa in den Norden. Sie sind häufig Opfer von Betrügereien oder Menschenhändlern«, sagt Corina Drousiotou. »Die Regierung wirft den nördlichen Behörden vor, Migranten auszunutzen, um Druck auf den Süden auszuüben.« Natürlich spiele die Migrationsfrage eine Rolle in den Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden, »aber es ist nicht die gleiche Situation wie in Belarus im Jahr 2021«.
Heute ist auch Yousef im Zentrum, der erst vor Kurzem das Erstaufnahmelager in Pournara verlassen hat, das rund 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt. »Es war schrecklich: Medikamente waren Mangelware, das Essen macht dich krank, die Zelte waren zu voll.« Der 24-Jährige erzählt, dass er aus dem Iran geflohen sei, weil er Christ ist. Er glaubt nicht, dass er die Proteste und das brutale Vorgehen der Sicherheitsleute überlebt hätte. »Ich wäre sicherlich schon tot.«
Die Angst, die er vor einiger Zeit noch ständig hatte, machte ihm das Leben in den ersten Tagen nach seiner Ankunft auf Zypern schwer: »Ich zog mich zurück wie beim Höhlensyndrom und war apathisch. Aber jetzt geht es mir besser, und ich kann nach einem Job suchen.«
Jeden Morgen kommen die Dutzende Asylbewerber zum Kreisverkehr auf dem Oxi-Platz. Sie sitzen auf der niedrigen Mauer unter Bäumen und hoffen, dass jemand sie für einen Arbeitstag einlädt. Sie sind Tagelöhner. »Oft werden diese Arbeiter ausgebeutet«, weiß Corina Drousiotou. Ihre Situation werde häufig als eine außergewöhnliche dargestellt. »Aber die Probleme für Migranten unterscheiden sich nicht groß von denen der Mehrheit auf der Insel: Es geht um Arbeit und Wohnraum.« Und beides ist nur in begrenztem Umfang vorhanden.
Schon seit 2017 steigt die Zahl der Asylbewerber in Zypern. Vor anderthalb Jahren dann begann die Regierung damit, die Grüne Linie mit Stacheldraht zu sichern, und intensivierte die Überwachung. »Die Grüne Linie wird damit als ›Außengrenze‹ betrachtet«, erklärt Corina Drousiotou. »Das ist ein komplett neues Phänomen für Zypern. Viele sind besorgt, dass wir uns auf eine Vertiefung der Spaltung zubewegen. Die Migranten scheinen dabei nur ein Vorwand zu sein.«
Einer der Friseure fegt die letzten Haare vom Boden und lacht: »Zuerst wollte niemand einen Haarschnitt von mir haben, aber jetzt stehen sie Schlange dafür.« Sadou Ngono arbeitet jeden Freitag als Friseur im Zentrum. »Die Menschen müssen sich wohlfühlen, wenn sie ordentlich gestylt sind. Das ist gut für sie und für andere.« Derzeit ist der 32-jährige Kamaruner arbeitslos. Bis vor Kurzem hat er noch in einer kleinen Aluminiumfabrik gearbeitet. »Trotz meiner Bitten gaben sie mir keinen Vertrag, und die Löhne waren miserabel.« Zwei Jahre war er dort beschäftigt. »Es gibt keine Gewerkschaften, die sich mit diesen Problemen befassen. Also bin ich gegangen.«
Sadou Ngono liebt Musik. Wenn er mit seinen Freunden in Parks singt, fällt ihm auf, dass die Einheimischen »nur anhalten und zuhören, wenn wir griechische Musik machen«. Er spürt ihre Vorbehalte. »Einige Zyprer mögen keine Geflüchteten. Trotzdem verdienen viele Geld mit ihnen.«
Draußen schüttet es. Corina Drousiotou sitzt am Schreibtisch und erklärt, dass »es in Zypern wie anderswo eine Politik gibt, die darauf abzielt, diese Menschen leiden zu lassen, damit sie erneut weiterziehen«. Im Erstaufnahmelager in Pournara müssen diejenigen Asyl beantragen, die irregulär einreisen. Eigentlich sollen sie sich dort nur drei Tage aufhalten, aber normalerweise bleiben sie anderthalb oder zwei Monate, und das Lager ist überfüllt.
Um einen regulären Job zu bekommen, benötigen die Neuankömmlinge eine Wohnadresse. »Viele Zyprer vermieten nicht an Asylbewerber, und die Wohnungssuche wird zu einem großen Problem«, sagt Corina Drousiotou. »Es gibt sogar Leute, die Adressen verkaufen.« Die Not der Migranten ist groß, und Geschäftemacher gibt es überall.
Ein Polizeiauto hält am Straßenrand, 100 Meter vor den Toren des Lagers von Pournara. Der Beamte schreit durch das Fenster: »Was machst du hier?« Er steigt aus dem Fahrzeug, überprüft die Dokumente und sagt streng: »Journalisten? Machen Sie Ihre Fotos und gehen Sie! Sprechen Sie mit niemandem!«
Die Namen von Esele, John, Daniel, Blessing, Ibrahim Dawood, Rahman, Yousef und Sadou Ngono wurden geändert, um ihre Sicherheit
zu gewährleisten.
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