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Jule Nagel: »Sie wollen nicht unter russischer Okkupation leben«
Die Linke-Politikerin Juliane Nagel hat in der Ukraine zivilgesellschaftliche Akteure getroffen
Frau Nagel, Sie sind im Januar mit Genoss*innen des Leipziger offenen Abgeordnetenbüros Linxxnet für mehrere Tage in die Ukraine gereist. Was war der Anlass der Reise?
Einerseits hatten wir einen Spendenaufruf gestartet, nun haben wir das Geld sowie medizinisches Equipment und andere Sachspenden, zum Beispiel Heizgeräte, in die Ukraine gebracht. Andererseits – und das ist der politische Anlass – vermissen wir seit Kriegsbeginn in der politischen Linken in Deutschland, dass diese sich auch für die Perspektiven von Linken und Gewerkschaften in der Ukraine interessiert. Wir wollten wegkommen vom »Darüber-Reden« und haben den Kontakt mit den Leuten gesucht, um mit ihnen zu reden.
Juliane Nagel sitzt seit 2014 für Die Linke im Landtag von Sachsen. Dort ist sie Sprecherin ihrer Fraktion für Flüchtlings- und Migrationspolitik, Wohnungspolitik und Drogen. Zudem sitzt sie seit vielen Jahren im Stadtrat von Leipzig. Im Stadtteil Connewitz betreibt sie das offene Abgeordnetenbüro »Linxxnet«. Mit der 44-Jährigen unterhielt sich Max Zeising.
Wen haben Sie auf der Reise alles getroffen?
Wir hatten zwei Schwerpunkte: linke und gewerkschaftliche Akteur*innen sowie Menschenrechtsorganisationen, die Kriegsverbrechen dokumentieren. Wir haben uns mit »Sotsialnyi Rukh« (»Sozialer Kreis«) getroffen, einer politischen Organisation, die eine neue linke Partei gründen will. Weiterhin haben wir uns mit Vertreter*innen linker Flügel verschiedener Gewerkschaften ausgetauscht: der Lokführer- und der Bergbaugewerkschaft. Drittens haben wir uns mit dem Center for Civil Liberties getroffen, einer Menschenrechtsorganisation, die im vergangenen Jahr gemeinsam mit Memorial aus Russland den Friedensnobelpreis erhalten hat.
Ist denn ein gewerkschaftlicher Kampf für soziale Rechte in einem Land, das einen Angriffskrieg abwehren muss, überhaupt möglich?
Eines der größten Probleme ist, dass viele Gewerkschaftsmitglieder und Beschäftigte einberufen werden. Der Arbeitsfokus von Gewerkschaften verlagert sich auf humanitäre Arbeit sowie Unterstützung von Familien und Vertriebenen. Der Vertreter der Lokführergewerkschaft hat zudem klar gesagt: Es gibt Einschränkungen beim Streikrecht und beim Versammlungsrecht, die Arbeitszeit wird erhöht, die Löhne werden gekürzt. Und wer dagegen einen Streik anzettelt, der riskiert, als Russland-Kollaborateur denunziert zu werden. Klar ist: In der Ukraine wird der neoliberale Umbau vorangetrieben, und es ist für die Gewerkschaften unter den Umständen des Krieges sehr schwer, dagegen vorzugehen.
Wie verlief das Gespräch mit »Sotsialnyi Rukh« und wie ist die ukrainische Linke strukturiert?
»Sotsialnyi Rukh« ist eine progressive emanzipatorische Organisation, die sich von der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei der Ukraine abgrenzt. Aus ihrer Sicht waren das orthodoxe Hammer-und-Sichel-Parteien, die stark mit Russland verbunden waren. Ich sage das explizit, weil ich von älteren Genoss*innen der Linken in Deutschland ganz oft auf diese Parteien hingewiesen werde. Für die Leute von »Sotsialnyi Rukh« sind das keine Partner, auch wenn sie das Verbot der beiden Parteien kritisieren. (Anmerkung der Redaktion: Die ukrainische Regierung hatte sämtliche politischen Aktivitäten der Sozialistischen Partei im März 2022 aufgrund des Vorwurfs von Verbindungen nach Russland für die Dauer des Ausnahmezustands verboten, die Kommunistische Partei war bereits 2015 verboten worden.)
Wodurch ist »Sotsialnyi Rukh« gekennzeichnet?
»Sotsialnyi Rukh« ist bewegungsorientiert, stark mit den Gewerkschaften vernetzt, versammelt feministische und klimapolitische Bestrebungen und unterstützt Geflüchtete. Die Älteren, die um die 40 sind, sind eher marxistisch orientiert und hadern mit der Europäischen Union, die sie als neoliberal wahrnehmen. Aber die Bewegung hat auch einen starken Pro-EU-Flügel, für den Anti-Korruption, Menschenrechte und liberale Werte wichtig sind.
Wie stehen »Sotsialnyi Rukh« und andere Linke in der Ukraine zu Waffenlieferungen?
In jedem Gespräch – egal, ob mit Linken, Gewerkschaften oder der stellvertretenden Bürgermeisterin von Butscha – sind Waffenlieferungen thematisiert worden. Die Leute von »Sotsialnyi Rukh« haben eine Distanz zur Linkspartei in Deutschland aufgebaut, nicht nur wegen Sahra Wagenknecht, die als Russland-nah wahrgenommen wird, sondern auch in der Waffenfrage. Die ukrainischen Linken wollen nicht unter einer russischen Okkupation leben, sondern sie wollen, dass der Krieg mit einem Rückzug Russlands aus der Ukraine beendet wird, obwohl sie gleichzeitig Nato-Gegner*innen sind.
Hat »Sotsialnyi Rukh« eine Verankerung in der ukrainischen Gesellschaft?
Ich nehme die ukrainische Bevölkerung als eher distanziert gegenüber Politik im Sinne des Wettstreits verschiedener Weltanschauungen wahr. Im ukrainischen Parlament gibt es ja die große Selenskyj-Partei »Diener des Volkes«, die eine »Catch-all-Partei« ist und als solche eher unideologisch auftritt, um eine breite Bevölkerung anzusprechen. Dagegen hat es eine linke Partei schon schwer, weil diese explizit für bestimmte gesellschaftliche Ideen steht. Gleichzeitig hat ein junger Gewerkschafter die gelebte Selbstorganisation und Solidarität in der Bevölkerung als »ukrainischen Kommunismus« bezeichnet, was ihm Hoffnung gibt, um über diese Alltagspraxis auch zu einer Perspektive für die ukrainische Linke zu kommen.
In der Not rücken die Menschen offenbar zusammen.
Fairerweise muss man sagen: »Sotsialnyi Rukh« hat etwa 100 Mitglieder, vor allem in Lwiw, Odessa und der Hauptstadt Kiew, die ein liberales Zentrum ist. Gerade mit dem starken Gewerkschaftsflügel ist das aber ein spannendes Projekt.
Zurück zur Waffenfrage: Die Linke in Deutschland hat sich gegen die Bewaffnung der Ukraine ausgesprochen. Es gibt aber auch einzelne Stimmen dafür. Die Ukrainer*innen wollen sich gegen Russland verteidigen, aber sind denn wirklich alle, die Sie getroffen haben, für Waffenlieferungen?
Tatsächlich alle. Es gab aber einen klugen Hinweis einer linken Aktiven: Wenn die Linkspartei in Deutschland sich bei der Waffenfrage zumindest enthalten oder eine andere Frage in den Mittelpunkt stellen würde, etwa nach humanitärer Hilfe oder Schuldenschnitt für die Ukraine, hätten wir es nicht so schwer, uns positiv zu ihr zu positionieren.
Woran liegt es, dass die Perspektiven der ukrainischen Linken in Deutschland bislang eine so geringe Rolle spielen?
Es gibt ein sehr einseitiges Bild von der Ukraine. Wir sind in den sozialen Medien beschimpft worden, wir würden in einen nationalsozialistischen Staat fahren. Vor allem in der älteren Generation scheint es immer noch nicht durchgedrungen zu sein, dass die Ukraine seit 1991 ein eigenständiger Staat und keine Kolonie der Sowjetunion ist. Die Ukraine hat eine eigene Identität entwickelt, das kann einem gefallen oder nicht. Sie ist jedenfalls kein Pufferstaat zwischen Westen und Osten, sondern nationalstaatliche Akteurin mit eigenen Interessen – natürlich nicht ohne Einflussnahme von allen Seiten. Zudem sitzt dieses Ost-West-Denken, bei dem die USA der Feind ist, immer noch tief. Natürlich hat auch die USA völkerrechtswidrige Kriege geführt, das hilft uns jetzt aber bei der Bewertung dieses Krieges überhaupt nicht.
Was haben Sie von der Reise für sich mitgenommen?
Der Besuch in Butscha, wo die russische Armee ein Massaker begangen hat, hat uns tief betroffen gemacht. Die stellvertretende Bürgermeisterin hat uns gesagt, sie rechne damit, dass dieses Trauma ewig anhalten wird. Ich finde, dass bestimmte Politiker*innen der Linken, die sonst große geopolitische Vorträge halten, sich diese Bilder der Zerstörung auch mal anschauen sollten. Und die dringende Frage, die wir als Linke beantworten müssen – wie sich die ukrainische Bevölkerung ohne internationale Waffenlieferungen gegen diese Verbrechen schützen soll – bleibt.
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