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Film über Filme
Der antikoloniale Aufbruch des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in einer Ausstellung von Zineb Sedira im Hamburger Bahnhof in Berlin
Wer träumt nicht davon, einmal im Leben ein Filmstar zu sein? Die Künstlerin Zineb Sedira hat sich diesen Traum verwirklicht. Für »Dreams Have No Titles«, ihre am Freitag beginnende Ausstellung im Hamburger Bahnhof, hat sie die Sets von Filmklassikern nachbauen lassen und darin einen neuen Film gedreht – mit sich selbst in der Hauptrolle. Entstanden ist eine autofiktionale Biografie, in der sie darüber nachdenkt, wie Filme, Bücher und Kunst aus dem antikolonialen Kontext ihr dabei geholfen haben, dem Rassismus der französischen Gesellschaft zu entfliehen und mit anderen eine widerständige Gemeinschaft aufzubauen. Die Ausstellung, die im vergangenen Jahr auf der Biennale von Venedig zu sehen war, umfasst sowohl die installativen Filmsets als auch den darin gedrehten Film.
Sedira wurde 1963 in dem »roten« Pariser Vorort Gennevilliers geboren und lebt heute in London. In der Ausstellung verarbeitet sie ein breites Spektrum von kulturellen Einflüssen. Sie reichen vom militanten Kino der Dritten Welt und den Zeitungen der Black Panthers, über Acid Jazz- und Rocksteady-Musik bis hin zu leichtfüßigen Tanzfilmen. Sedira weiß, dass beides zusammengehört: Der mit großem Ernst geführte politische Kampf und der spielerische kulturelle Widerstand. So trifft man in der Ausstellung auf zwei Filmsets aus ganz unterschiedlichen Filmtraditionen. In Ettore Scolas »Der Tanzpalast« (1983) wird kein Wort gesprochen, stattdessen flirten und tanzen die Schauspieler*innen in dem Film durch die Jahrzehnte. Während in den Anfangsszenen noch Banner der französischen Volksfront der 1930er Jahre hängen, attackieren gegen Ende Rocker die Musikkapelle und legen ihre eigene Musik auf. Für ihre Installation hat Sedira den Tanzsaal in den Hamburger Bahnhof transferiert. Er lädt zum Tanzen ein. Es gibt auch eine Bar, an der man sich trifft. Ihr direkt gegenüber findet sich ein Set aus Gillo Pontecorvos »Die Schlacht um Algier« (1966), ein neorealistisches Epos über den algerischen Befreiungskampf, der 1954 begann und 1962 mit der Unabhängigkeit von Frankreich endete.
Sedira hat einen Raum aus dem Film nachbauen lassen. Es ist ein traditionelles Zimmer in der Kasbah von Algier. In Pontecorvos Film schneiden sich dort die drei algerischen Unabhängigkeitskämpfer*innen Djamila Bouhired, Hassiba Bent-Bouali und Zohra Drif ihre langen Haare ab. Sie legen sich einen europäischen Kleidungsstil zu, um unbemerkt die Kontrollen des französischen Militärs passieren zu können. Anschließend legen sie Bomben in von französischen Zivilist*innen besuchten Cafés im europäischen Teil der Stadt. Für die Reinszenierung in Sediras Film schlüpft die Kuratorin Yasmina Reggad in die Rolle von Drif, während Sedira selbst mit ihrem langjährigen Künstlerfreund Fayçal Baghriche in Ettores Saal einen Tanz aufführt.
Die Zusammenführung dieser beiden aus so verschiedenen Genres stammenden Filmsets schafft in Sediras Installation eine unheimliche Spannung. Mit Pontecorvos Bombenszene im Kopf lässt sich Scolas Tanz gleich viel weniger unbeschwert an. Die Künstlerin erschließt sich beides, Kunst und Politik, ausgehend von ihrer eigenen Subjektivität. Bereits in früheren Arbeiten verfolgte sie diese feministische Methode. In der Drei-Kanal-Installation »Mother, Father and I« (2003) spricht sie mit ihren zu Beginn der 1960er Jahre von Algerien nach Frankreich eingewanderten Eltern über deren Erfahrungen im algerischen Befreiungskampf (1954–1962) und mit der Migration. Ihre Mutter berichtet dabei von Vergewaltigungen und Folterungen durch französische Soldaten und Harkis (algerische Kollaborateure), aber auch vom Rassismus der französischen Nachbarschaft nach der Migration. Der Vater erzählt vom Schmuggel für die algerische Befreiungsfront FLN und vom Sammeln von Unterstützungsgeldern in Frankreich.
Bei diesem Kampf ging es um mehr als um die algerische Unabhängigkeit, wie ein Zitat von Frantz Fanon zeigt: »Wir sind Algerier, verbannen wir aus unserem Land jegliche Form des Rassismus und der Unterdrückung! Lasst uns an der Entfaltung des Menschen und der Vervollkommnung der Menschheit arbeiten.« Sedira hat es auf ein Papier geschrieben, das in einer Schreibmaschine steckt. Bekanntermaßen stammte der Psychiater und Theoretiker Fanon nicht aus Algerien, sondern von Martinique, das bis heute zu Frankreich gehört. Er beteiligte sich am algerischen Befreiungskampf und sah darin einen universellen Kampf gegen die kolonial-rassistische Weltordnung. Sein Zitat hat auch Ennio Lorenzini 1964 seinem militanten Film »Les mains libres« (etwa: Die freien Hände) vorangestellt. Dieser Farbfilm zeigt Algerien im Aufbruch, ein Land, in dem zumindest bis 1965 die Gesellschaft sozialistisch umgebaut werden sollte und das in dieser Zeit einen Kristallisationspunkt der weltweiten antikolonialen Bewegungen bildete. Lorenzinis Film schlummerte mehr als 50 Jahre in einem Filmarchiv in Rom, Sedira hat ihn für ihre Ausstellung wiederentdeckt und restaurieren lassen, um Teile davon in ihre Installation einfließen zu lassen.
Da stehen sie nun im Ausstellungsraum, die Filmsets. Beim Betreten könnte man den Eindruck bekommen, dass sie nur für eine kurze Pause von der Filmcrew verlassen wurden. Sedira hat ihren eigenen Film darin aber bereits fertig gedreht. Nun ist es an den Besucher*innen, sich die Filmsets anzueignen und darin ihre eigenen Träume von politischem Kampf und kulturellem Widerstand Wirklichkeit werden zu lassen.
»Dreams Have No Titles«, bis 30. Juli im Hamburger Bahnhof, Berlin
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