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Mit Präsident Selenskyj im Bunker
Sean Penns Dokumentarfilm »Superpower« wurde auf der Berlinale präsentiert
Es ist vier Uhr morgens am 24. Februar 2022. Sean Penn läuft mit einer Zigarette in der Hand auf den Straßen von Kiew herum. Schlaflos, nervös und kaputt. Seine Schlaflosigkeit scheint nicht nur der Dramatik zu dienen. Russland wird an diesem Tag die Ukraine angreifen. Soviel steht fest. Was jedoch sollen er und sein Drehteam nun in Kiew machen? Er will an diesem Tag eigentlich den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj interviewen. Wird das Interview überhaupt stattfinden? Verlässt Selenskyj vorher das Land? Und soll Penn zu seiner eigenen Sicherheit nicht auch noch schnell in ein letztes Flugzeug einsteigen?
Das alles sollte nicht das Thema des Films sein, den er ursprünglich in Kiew drehen wollte – bis auf das Interview mit dem Präsidenten. Mit seinem Kollegen Aaron Kaufman wollte Sean Penn anfangs eine Dokumentation über Selenskyj machen: Wie ein Schauspieler Präsident wurde. Das klang nach einem interessanten Stoff für einen Hollywoodfilm. Doch auf einmal marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Es ging nicht mehr um einen einzigen Mann namens Selenskyj, sondern um ein ganzes Land, das sich mitten in einem Krieg befand. So gab es auch bei dem besagten Interview, das tatsächlich doch noch am Abend des 24. Februar stattfand, nicht viel zu besprechen, jedenfalls vor der Kamera nicht. Es fallen nur einige Sätze: Die Aufmerksamkeit der Welt, die Aufmerksamkeit der USA sei wichtig, betont Selenskyj. Sofort wird klar, der Inhalt des Interviews ist hier zweitrangig, Hauptsache: Es hat stattgefunden, und zwar während der Raketenangriffe. »Bitte sagen Sie nicht, dass Sie im Bunker waren, sondern einfach im Präsidentenbüro!«, bittet eine ukrainische Mitarbeiterin Sean Penn und begleitet ihn nach draußen. Der Mann aus Hollywood verlässt jenes Meeting nicht als Regisseur, sondern vielmehr als Botschafter für die Ukraine.
Ein Jahr danach ist Penn nach Berlin gereist, um seine Dokumentation »Superpower« auf der 73. Berlinale zu präsentieren – der Titel stammt aus einer satirischen TV-Serie, in der Selenskyj vor vielen Jahren die Rolle eines Präsidenten gespielt hatte. In einer Szene fragt der Sohn des fiktiven Präsidenten den Vater, ob dieser über Superkräfte verfüge. Der Vater antwortet: »Klar doch!«
Bis auf den Titel ist der Dokumentarfilm komplett neu konzipiert worden. Am Tag nach dem Gespräch mit Selenskyj sieht sich Penn mit der Frage konfrontiert: Wie kommt man hier raus? Ihm wird daraufhin eine Autofahrt nach Polen organisiert – der sicherste Weg, wie es heißt. Außerdem wird er über die Gefahr und Kontrollen an den Checkpoints aufgeklärt. »Gibt es irgendwelche Waffen im Wagen?«, möchte Penn bloß wissen. Ab hier ist es Hollywood pur. Nach mehr als 20 Stunden Fahrt steigt er an der polnischen Grenze aus. Schlaflos, nervös und kaputt. Die letzten paar Kilometer geht er zu Fuß mit einem Rollkoffer in der Hand. So inszeniert Penn sich selbst als Teil seiner Dokumentation.
Die Filmmaterialien über Selenskyj wiederum, die vor der Invasion gesammelt wurden, zeigen vor allem dessen präsidiale Anfänge. Wie er das System brechen und die Oligarchie beenden will. Und was die Ukrainer*innen vor dem Krieg von ihm halten. Es werden zudem Einblicke in die Demonstrationen auf dem Majdan Nesaleschnosti 2014 in Kiew vermittelt, im Zuge derer »die ukrainische Identität« erst überhaupt ernsthaft zum Thema gemacht wurde.
Sean Penn reist nach dem Kriegsausbruch noch ein paar Male in die Ukraine, führt Gespräche mit verschiedenen Menschen; von Regierungsleuten (darunter auch wieder mit Selenskyj) bis zu den Bewohner*innen der zerbombten Gegenden sowie Soldaten an der Front. Ob er für seine Dokumentation auch mit Putin gesprochen habe, wurde er auf der Pressekonferenz der Berlinale gefragt. Er verneint und begründet: Sein Film sei kein unparteiischer Film, denn es sei auch kein zweideutiger Krieg. Und: »Herr Putin hat bereits viel zu viel geredet.«
»Superpower«: USA 2022. Regie: Sean Penn, Aaron Kaufman. 115 Min.
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