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Der Streik als Feindbild
Leo Fischer über das Bild von Gewerkschaften in Gesellschaft und Medien
Schon wieder streiken die Gewerkschaften, schon wieder ist das Jammern im Blätterwald groß: »Klimaschützer und Busfahrer schießen sich mit Streik-Kombi selbst ins Knie«, weint der »Focus«. »Nichts geht mehr in Bayerns Städten«, lügt schon recht dreist der Bayerische Rundfunk. »Maßlose Forderungen« diagnostiziert »RP Online«. Mit der Erosion des Berufsbild der Journalist*innen sinkt offenbar auch die Bereitschaft all der Text-Tagelöhner*innen und Zeilengeldschinder*innen, sich mit Streikenden zu solidarisieren. Selten zuvor hatten Arbeitgeberverbände ein besseres Presseecho; sogar deren übergeschnappte Forderung, das Streikrecht einzuschränken, wurde im Wesentlichen kritiklos aus Pressemitteilungen übernommen.
Täuscht der Eindruck nicht, dann hat sich seit der Pandemie die öffentliche Unduldsamkeit mit Arbeitskämpfen noch einmal verstärkt. Das Gefühl, dass es hier ums allgemeine Interesse geht, ist gänzlich abwesend; die gesellschaftliche Funktion der Gewerkschaften taucht im Diskurs nicht mehr auf. Über Gewerkschaften wird so gesprochen, wie über Wirtschaftslobbys gesprochen werden müsste: Ihnen werden eigennützige Motive, Partikularismus und Gier vorgeworfen, ihre Redlichkeit wird in Zweifel gezogen. Wo man sich noch um Zurückhaltung bemüht, weist man sie auf vermeintliche strategische Fehler hin: Jaja, das Streikrecht sei wichtig, dieser Streik jedoch komme zur Unzeit, treffe die Falschen, nütze niemandem. Demnach gäbe es niemals einen angemessenen Streikanlass.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegengelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Und es stimmt ja: In den immer feiner gesponnenen Effizienzlogiken des Neoliberalismus ist für Streik kein Platz; genauso wenig wie für Lieferengpässe, eine Pandemie oder überhaupt unvorhergesehene Ereignisse. Nichts darf schiefgehen dort, wo die Personaldecken dünn wie Seidenpapier sind, wo Übergaben sekundengenau abgerechnet werden. Wo keine Redundanzen eingeplant sind, ist jede Abweichung eine Katastrophe. Die an den Rand des Kollaps gesparten Systeme des Neoliberalismus brechen beim kleinsten Windstoß zusammen; was allerdings nicht ihren Designer*innen angelastet wird, sondern jenen, die es noch wagen, Wind zu machen. Angesichts dieser labilen und doch tausendfach verzahnten Systeme ist jeder Streik tatsächlich eine Katastrophe mit unvorhersehbaren wirtschaftlichen Folgen – dass sie so unvorhersehbar sind, ist aber die Schuld derjenigen, die diese Systeme gestaltet haben.
So sind die Gewerkschaften in der paradoxen Situation, den Kampf gegen den Effizienzdruck zu führen inmitten von Systemen, die jeden Reibungsverlust zum Problem anderer Leute machen. Statt die zusammengesparte Pflege oder den ruinierten Nahverkehr zu kritisieren, fällt die Wut auf die Wenigen, die dem Zusammensparen entgegentreten. Die durch Einsparungen entzogene Lebensqualität erzeugt keinen Protest; die durch Streik kurzfristig irritierte Lebensqualität erntet hingegen geballte Wut. Gegen Einsparungen finden sich keine Argumente, Effizienz ist Selbstzweck; gegen Streik hingegen immer.
Die zunehmende Unkommunizierbarkeit von Streiks innerhalb solcher Logiken wird über kurz oder lang zur kompletten Diskreditierung gewerkschaftlicher Organisation führen. Die Arbeitgeberverbände müssen oft nur mehr Stichworte liefern; was fällt, soll man stoßen. Mehr noch: Die Gewerkschaften haben es versäumt, sich als breite gesellschaftliche Kraft einzubringen, bewegen sich dort, wo Mitgliedschaften nicht vererbt werden, schon außerhalb der Alltagskultur. Sie tauchen nur noch als das auf, wozu man sie gemacht hat: als Katastrophe.
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