China sucht neues Wachstumsmodell

Der scheidende Premierminister Li Keqiang betont auf dem Nationalen Volkskongress die Wichtigkeit von Reformen

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn man Chinas Nationalen Volkskongress als politisches Theater begreift, so war der vom Premierminister vorgelegte Arbeitsbericht der mit Spannung erwartete erste Akt. Während seines einstündigen Vortrags am Montagmorgen arbeitete Li Keqiang vor knapp 3000 Abgeordneten in der Großen Halle des Volks sämtliche Themenfelder ab, die in den nächsten Monaten die Politik des Landes bestimmen werden. Die meisten Beobachter waren jedoch vor allem auf eine einzige Zahl gespannt: das von der Regierung gesetzte Wachstumsziel. Mit »rund fünf Prozent« liegt es dieses Jahr so niedrig wie seit über einem Vierteljahrhundert nicht mehr.

Überhaupt ist der am Montag gestartete Volkskongress ein ganz besonderer: Erstmals tagt das chinesische Scheinparlament, seit sich Staatspräsident Xi Jinping eine umstrittene dritte Amtszeit sichern ließ. Dementsprechend wird der mächtige Staatschef während der achttägigen Veranstaltung auch seine neue Führungsmannschaft vorstellen, die mehr denn je aus politischen Jasagern besteht.

Zudem tagen die Delegierten während besonders turbulenter Zeiten: Zweieinhalb Jahre »Null Covid« haben der zweitgrößten Volkswirtschaft empfindlich zugesetzt; die geopolitischen Spannungen mit den USA haben deutlich zugenommen; langfristig droht der demografische Wandel, Chinas Aufstieg auszubremsen.

Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an eine schnelle wirtschaftliche Erholung des Landes. Das bescheidene Wachstumsziel, das aufgrund der niedrigen Ausgangslage von 2022 vergleichsweise leicht zu erreichen sein sollte, hält eine ambivalente Botschaft bereit: Einerseits schwört Chinas scheidender Premier Li Keqiang seine Bevölkerung auf eine schwierige Zukunft ein. Die Zeit des rasanten Wachstums ist im Reich der Mitte wohl endgültig vorüber.

Gleichzeitig leitet der 67-Jährige Li einen Paradigmenwechsel ein, der von vielen Ökonomen begrüßt wird. Denn er verlegt den Fokus vom rein numerischen Wachstum hin zur Qualität der wirtschaftlichen Entwicklung. »Angesichts der erwarteten Erholung des Konsums ist das Ziel nicht zu ehrgeizig und würde etwas Spielraum für Reformen und einen Schuldenabbau bieten – beides ist dringend erforderlich, um längerfristige Wachstumsraten von etwa fünf Prozent zu gewährleisten«, kommentiert etwa Bert Hofman, Professor an der »Lee Kuan Yew School of Public Policy« in Singapur, auf Twitter.

In früheren Jahren hat China vor allem in massive Infrastrukturprojekte investiert, um schnelles Wachstum zu generieren. Dieser Ansatz ist jedoch nicht nur wenig nachhaltig, sondern mittlerweile auch vollständig ausgereizt.

Stattdessen möchte die KP-Führung nun den schwachen Konsum des Landes stärken, um einen neuen Wirtschaftsmotor zu kreieren. Dafür braucht es allerdings schmerzhafte Reformen – etwa eine Stärkung der sozialen Absicherungssysteme –, zu der die Führung der Kommunistischen Partei bislang noch nicht bereit war.

Zudem legt die Volksrepublik ihre Priorität darauf, die rekordhohe Jugendarbeitslosigkeit von knapp 20 Prozent zu bekämpfen. Für 2023 möchte man daher zwölf Millionen neue Arbeitsplätze in den Städten schaffen, um die städtische Arbeitslosenquote bei etwa 5,5 Prozent zu halten.

Außenpolitische Themen spielen beim Nationalen Volkskongress traditionell eine untergeordnete Rolle. Den Ukraine-Krieg erwähnte Li Keqiang in seinem Arbeitsbericht beispielsweise mit keiner Silbe. Stattdessen hieß es lediglich, dass es »Turbulenzen« und »unruhige Gewässer im internationalen Umfeld« gebe.

In Bezug auf Taiwan hat der scheidende Premier jedoch deutlich moderatere Töne angeschlagen als noch im Vorjahr. Aus seinen Worten ließ sich keine direkte militärische Drohung ableiten, ebenso sprach er keine Warnung gegen »ausländische Einmischungen« aus. Der Fokus lag vor allem auf einer »friedlichen Wiedervereinigung«, deren Form jedoch nicht näher spezifiziert wird.

Gleichzeitig betonte Li auffallend oft die »Kampfbereitschaft« der chinesischen Volksbefreiungsarmee, die zu stärken sei. Die Erhöhung des Militärbudgets um 7,2 Prozent dürfte für den demokratischen Inselstaat Taiwan ebenfalls besorgniserregend sein.

Der Arbeitsbericht des scheidenden Premierminister Li Keqiang wird in den nächsten Tagen und Wochen noch im Detail analysiert und interpretiert werden: Die englische Übersetzung erstreckt sich immerhin auf 39 Seiten. Ein erster Eindruck legt nahe, dass er aus der Feder eines Pragmatikers und keines Ideologen stammt: »Wachstum« erwähnt Li 36 Mal, der Begriff »Reform« fällt 42 Mal. Die ideologischen Floskeln, die unter Xi Jinping immer prominenter in den Vordergrund gestellt werden, lassen sich hingegen nur am Rande finden.

Dementsprechend ist es kein Zufall, dass Li Keqiang sich in den kommenden Tagen in den Ruhestand verabschieden wird. An seine Stelle tritt nun mit Li Qiang, dem Parteisekretär von Shanghai, ein enger Gefolgsmann von Präsident Xi. Dieser wird Teil eines Führungsteams sein, das zwar durchaus Fachexpertise vorweisen kann, doch vor allem wegen seiner politischen Loyalität zum übermächtigen Parteivorsitzenden ausgesucht wurde.

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