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- Sozialdemokratie und Frauenfrage
Fasziniert und frustriert
Karl Kautsky und seine Frauen – da war mehr Praxis als Theorie, meint Harald Koth
Er war eine der großen Persönlichkeiten der frühen Sozialdemokratie: Karl Kautsky. Über sein Privatleben ist bislang wenig bekannt. Der Leipziger Historiker Harald Koth, der sich schon seit Langem mit der frühen Sozialdemokratie und insbesondere mit Karl Kautsky beschäftigt, hat nun das erste Buch zu den Frauen von KK publiziert und damit eine Lücke geschlossen. Seine Recherche schöpft großteils aus dem Briefwechsel zwischen Luise und Karl Kautsky. Ab 1909 besaßen sie zwar ein Telefon, sie behielten dennoch die Praxis bei, sich bei Trennung (bedingt durch Reisen, Kongresse etc.) täglich ein schriftliches Lebenszeichen zu senden. Ihre Briefe überstanden Emigration und Weltkrieg.
Zu erfahren ist hier nichts über die Farbe ihrer Unterröcke oder seine sexuellen Präferenzen, dafür aber viel Interessantes über Karl Kautskys Verständnis von Liebe und Familie, von Emanzipation und Gleichberechtigung der Geschlechter in der damaligen Sozialdemokratie. Erkenntnisse, die einerseits das Bild vom Menschen KK erweitern und andererseits endlich die Frauen, die ihn und sein Leben prägten und die die Basis seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit bildeten, aus seinem Schatten treten lassen – Frauen, für die er in Liebe entbrannte, von denen er sich trennte, sich manchmal wieder versöhnte, und mit denen er auf mannigfache Weise kooperierte.
Zum anderen erfährt der Leser, wie führende Sozialdemokraten, die in der Theorie den politischen Klassenkampf mit dem Konzept der Gleichberechtigung verbanden, die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Praxis lebten. Harald Koth fördert diverse private Verquickungen des sozialdemokratischen Milieus zutage, die darauf hindeuten: Es ging auch diesbezüglich stürmisch und leidenschaftlich zu im Kreise der Kautskys, Luxemburgs oder Zetkins. Dies ist besonders aufschlussreich im Vergleich mit aktuellen identitätspolitischen und feministischen Diskursen, wozu sich der Autor allerdings nicht explizit äußert. Er bleibt lieber bei den historischen Fakten bzw. den subjektiven Bekenntnissen und Reflexionen der Akteure. Und das ist gut so.
Die Frauenfrage ist – was die Theorie betrifft – für Kautsky Nebensache. Hier hält er es mit August Bebel, der in seinem Bestseller »Die Frau und der Sozialismus« (1879) die binäre Mono-Ehe als Grundlage »aller gesellschaftlichen Entwicklung« bezeichnete. Auch im Sozialismus tritt die Frau »in den Ehebund, der nicht mehr eine Versorgungsanstalt für sie ist, sondern einzig und allein der Bund, in dem sie, mit dem Mann ihrer Wahl vereinigt, ihren Naturzweck erfüllt, dem Naturtrieb die schuldige Rücksicht zollt.«
In den »praktischen Frauenfragen« geht es bei Kautsky turbulenter zu, als man es bei einem marxistischen Theoretiker jener Zeit erwarten würde. Von seiner ersten großen Liebe, Milicia Ninkovic, schwärmt er bis ins hohe Alter. Kautsky, für den wahre Liebe erst in der Ehe vollkommen war, glaubt dann zu wissen, dass sie nicht die richtige Lebenspartnerin sein würde. Als er über Trennung nachdenkt, wird er durch den frühen Tod der »emanzipierten Revolutionärin« von der Entscheidung »befreit«.
Kautsky wäre nicht der Kautsky geworden, wenn er nicht die liebevolle Zuwendung und Unterstützung »seiner« Frauen gehabt hätte. Aber richtig ist wohl auch: Ohne die »Kautsky’sche Prägung« wären seine Ehefrauen nicht das geworden, was sie waren: Aktivistinnen der frühen Sozialdemokratie, die vor allem ihrem Mann zur Seite standen, aber auch eigenständige Beiträge für die Bewegung leisteten.
In der ersten Lebenshälfte war es die Mutter Minna Kautsky, eine zu ihrer Zeit bekannte Schauspielerin und Schriftstellerin, die »in höchstem Maße bestimmend« auf ihn einwirkte. Auch wenn später die Ehefrauen in den Mittelpunkt traten, blieb die enge Verbindung zur Mutter erhalten. Minna Kautsky förderte und unterstützte ihren Lieblingssohn ein Leben lang, wie und wo sie konnte.
In erster Ehe verbindet sich Kautsky nicht mit der »allerliebsten kleinen Serbin« (Milicia), von der er sich im vorehelichen Geschlechtsverkehr enttäuscht fühlt, sondern mit Louise (geborene Strasser, 1860–1950), einer »lebendigen, gradherzigen Wienerin« (August Bebel), die auch von der dominanten Mutter (Minna Kautsky) akzeptiert wird. Mit Louise läuft es zunächst gut. Sie lernt die englische Sprache, »sie vervielfältigt, korrigiert und korrespondiert als seine Privatsekretärin« und geht ihrem Mann auch in der Redaktion der »Neuen Zeit« zur Hand. Louise interessiert sich für Medizin, schreibt Artikel und absolviert Lehrgänge für Physiologie und Anatomie. Aber die Eheleute leben sich mit der Zeit auseinander, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Ehe kinderlos bleibt und für Kautsky eigene Kinder zu einer guten Ehe dazugehören.
In der Krise lernt Kautsky die 24-jährige Isabelle (»Bella«) kennen, um die eine »eigenartige Poesie« weht. »Er entbrennt lichterloh, gerät zwei Monate lang vollständig in Bellas Bann, erliegt ihrer Faszination total.« Gefangen im »faszinierenden« Zauber, den Bella auf die Männer ausübt, vergisst er die Partei, die Wissenschaft, die Freunde. Er will sich von Louise scheiden lassen und die attraktive Bella ehelichen. August Bebel und Friedrich Engels, die davon Kenntnis bekommen, kritisieren sein kopfloses Verhalten. Bebel nennt es die »größte Dummheit«, die Kautsky sich leisten kann. Für Engels ist KK »ein recht törichter, unüberlegter und auch rücksichtsloser Mensch«. Am Ende wird aus dem »Liebesprojekt Bella« nichts, denn Bella liiert sich mit Kautskys jüngerem Bruder Hans, einem erfolgreichen Theatermaler und Künstler aus Wien. Eine Ehe, die nicht lange hält.
Auch die Ehe von Karl Kautsky mit Louise wird Ende Oktober 1889 durch das Wiener Landesgericht geschieden. Louise bleibt der Sozialdemokratie aber erhalten und wird nach der Scheidung von Kautsky die Sekretärin von Friedrich Engels in London. Für Engels, der durch den Tod von Helene Demuth (4. November 1890) seine Haushälterin, Sekretärin, Assistentin (sein »liebes, treues Lenchen«) verloren hat, ist es ein Glücksfall.
»Natürlich ist Karl Kautsky ein Kind seiner Zeit«, schreibt Harald Koth und meint damit: »Der Mann bestimmt. Er erobert das Weib, finanziert den Lebensunterhalt und fordert dafür die Erfüllung ehelicher Pflichten ein.« In der Programmatik der Sozialdemokratie, an der Kautsky mitgearbeitet hat, wird aber die Gleichberechtigung der Frau gefordert, die dem Manne wirtschaftlich gleichgestellt sein muss, als »seine freie Genossin«, »befreit (emanzipiert) nicht bloß von der Knechtschaft des Hauses, sondern auch von der des Kapitals. Frei über sich verfügend, gleich dem Manne, wird sie (…) zum ersten Male in der Weltgeschichte die für Mann und Frau gleich geltende Einehe zu einer wirklich, nicht bloß dem Buchstaben nach, bestehenden Einrichtung erheben.« Kautsky war durchaus bestrebt, dieses Verständnis von Gleichberechtigung in der eigenen »Frauen-Praxis« umzusetzen und diese »freie, gleichberechtigte Genossin« an seiner Seite zu haben.
Karl Kautsky starb am 17. Oktober 1938; Luise (geborene Ronsperger), mit der er fast ein halbes Jahrhundert verheiratet war, am 8. Dezember 1944 im Konzentrationslager Ausschwitz. Die Nachrufe stimmen in einem Punkt überein, wie Harald Koth herausstellt: »Luise Kautsky war nicht nur die Gattin ihres Mannes. Sie war ein großer, kluger und gütiger Mensch, der die zauberhafte Gabe besaß, sich überall Freunde zu erwerben und die Grundideen des Sozialismus in die Wirklichkeit des Alltags umzusetzen.«
Ein lesenswertes Buch, auch deshalb, weil es über emanzipierte Frauen an der Seite von Alpha-Männern berichtet.
Harald Koth: Mehr Praxis als Theorie. Karl Kautsky und seine Frauen. Verlag am Park in der Edition Ost, 150 S., br., 16 €.
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