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Frankreich als Vorbild für Streiks in Deutschland
Ein Plädoyer für den politischen Streik von Olivier David
Der erste Streik, der in meiner Familie angezettelt worden ist, war der meines Vaters gegen das französische Schulsystem. Eines Morgens verschloss er als Jugendlicher mit einer Metallkette die Tore seines Gymnasiums in Rouen. Vor dem Tor agitierte er die anwesenden Schüler*innen und die verdutzten Lehrer (!), indem er ihnen die Vorteile des Anarchismus zu erklären versuchte. Es ist bekannt, dass er die politische Ordnung Frankreichs leider nicht überwinden konnte. Aber zumindest für ein paar Stunden, in denen er sich bockig weigerte, den Schlüssel herauszurücken, bestimmte er die Agenda.
Streiken, das liegt mir als Halbfranzose also ein bisschen im Blut, wenn man so will. So wundert es nicht, dass ich als Kind den Einsatz schwarzer Pädagogik vonseiten meiner Mutter (»Du kommst erst aus deinem Zimmer, wenn du aufgegessen hast.«) souverän bestreikte: Die Blumenkohlröschen, die wie Hirn aussahen und wie Erbrochenes schmeckten, landeten auf der Straße und in meiner Zahnspangendose, wo sie ein paar Monate die olfaktorische Erinnerung der Idee bildeten, dass das private immer auch politisch ist.
Die nächste Quasi-Streikepisode in meinem Leben hatte schon politischere Züge, die Sportart: Arbeitskampf. In meinem Volontariat bei einer Lokalzeitung protestierten wir Arbeiter*innen gegen den Verkauf unserer Zeitung, zeitweise war sogar das Aus unserer Zeitung eine reale Option. Niemals, und das meine ich ernst, hat sich eine fast zweistündige Mittagspause, die wir mit Schildern vor dem Hamburger Rathaus standen, so sinnvoll angefühlt. Selten habe ich mich Leuten je wieder so verbunden gefühlt, wie an dem Tag, an dem ich Seite an Seite mit Menschen stand, denen ich im Büro höchstens zunickte.
Das als kleine Einstimmung auf die Gegenwart, denn die besteht aus Streiks – und alles daran ist wundervoll! Die Post streikt, die Bahn ebenfalls, Krankenhäuser, Müllwerker. Mein kleines französisches Protestherzchen will sich besoffen machen von dem Geruch des liegengebliebenen Mülls und von der leeren Fahrplananzeige.
Diese Zeilen, so launig sie aufgeschrieben sein mögen, sollen nicht als Verkitschung sozialer Kämpfe gelesen werden. Angesichts der Inflation, der Aufrüstungsekstase, der Energiekrise und den im dritten Jahr in Folge sinkenden Reallöhnen sind Arbeitskämpfe das Mittel der Wahl für eine bessere Welt. Vielleicht ist es darüber hinaus auch sinnvoll, Arbeitskämpfe aus dem harmlosen Diskurs des Sozialen zu lösen, in einer Welt, in der Soziales als etwas Weiches angesehen wird, als etwas, um das sich gesorgt werden muss.
Wieder muss ich mir mit französischen Diskursen helfen: Der Autor Édouard Louis schlägt vor, »von linker Sicherheit zu sprechen im Sinne von sozialer Sicherheit, Sozialhilfen, dem Recht auf Arbeit und den Rechten von Minderheiten«. Dann nämlich würden Menschen in die Lage versetzt werden, auf Basis einer ökonomischen Sicherheit eine ganz andere Form des solidarischen Lebens miteinander zu teilen.
Vielleicht müssen Diskurse um Sicherheit aus den Händen der Reaktionäre gerissen werden, die die Ausschreitungen an Silvester als Chiffre für ein Migrationsproblem verstanden wissen wollten und nicht als Chiffre einer gescheiterten Sicherheitspolitik, die nicht für ökonomische Sicherheit der vielen sorgen kann.
Und weil der Text im französischen Rouen begonnen hat, so muss er auch dort enden. Oder besser, bei der Autorin Annie Ernaux, deren autosoziobiografische Romane teilweise in Rouen spielen. Am Ende eines Textes, den Ernaux über die aktuelle Streikwelle in Frankreich geschrieben hat, richtet sie das Wort an die Streikenden, und schreibt: »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Beugen wir uns nicht.«
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