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»Ich würde der Existenz einer Schwarzen Mittelklasse nicht zu viel Bedeutung beimessen«

Adam Elliott-Cooper und Tahir Della im Gespräch über Kämpfe gegen institutionellen Rassismus in Großbritannien und Deutschland

  • Interview: Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 11 Min.
Black Lives Matter Proteste 2020 vor dem Amtssitz des britischen Premiers in der Downing Street.
Black Lives Matter Proteste 2020 vor dem Amtssitz des britischen Premiers in der Downing Street.

Sie sind beide für Organisationen aktiv, die sich schon lange mit Rassismus in den jeweiligen Gesellschaften auseinandersetzen. Welche Schwerpunkte gibt gegenwärtig in Ihrer Arbeit, und wie hängt das mit der aktuellen politischen Situation zusammen?

Interview

Adam Elliott-Cooper hat Politikwissenschaft studiert und engagiert sich in zahlreichen antirassistischen Organisationen Großbritanniens, unter anderem bei »The Monitoring Group«, einer Basisgruppe, die sich seit rund 40 Jahren für die Opfer rassistischer Gewalt einsetzt.

Tahir Della ist seit der Gründung 1987 Aktivist der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland ISD und mittlerweile deren Pressesprecher sowie Fachreferent Dekolonisierung im Berliner Promotorenprogramm »Eine Welt« für Postkolonialismus und Antirassismus.
 

Adam Elliott-Cooper: Ich beschäftige mich gegenwärtig vor allem mit Polizeiarbeit. Schon seit 30 oder 40 Jahren sind Polizei und Justizvollzug immer mächtiger geworden, aber in den letzten Jahren hat es sich noch einmal massiv ausgeweitet: Migration und Bewegungsfreiheit werden zunehmend kriminalisiert. Verstärkt werden auch Angestellte des Gesundheitswesens, Lehrer*innen, Vermieter*innen oder einfach Vorgesetzte zur Überwachung von verdächtigten Menschen ohne Ausweispapiere herangezogen. Außerdem bauen die Behörden umfangreiche Datenbanken von Personen ohne Ausweispapiere oder mit unklarem Immigrationsstatus auf. Wir erleben auch eine Ausweitung des Spielraums der Polizei für Vorladungen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen bis zur Anwendung potenziell tödlicher Gewalt gegenüber diesen Personen. Mit genau den gleichen Methoden erweitert die Polizei ihre Macht auch im Bereich der sogenannten »Banden- bzw. Clankriminalität« und nicht zuletzt bei sogenannten »Anti-Terror-Maßnahmen« sowie der Kriminalisierung von Rom*nja und Sinti*zze. Was all diese Formen zunehmender Polizeimacht eint, ist dass sie sich gegen Gruppen richten, die in Großbritannien in unterschiedlichem Maße rassifiziert werden.

Tahir Della: Die ISD besteht jetzt seit 36 Jahren und seitdem versuchen wir deutlich zu machen, wie tief Rassismus in allen gesellschaftlichen Strukturen verankert ist. Das schließt natürlich Polizei und Justiz ein, aber auch den Bildungsbereich oder das Gesundheitswesen. Es gab in der Vergangenheit ja reihenweise Fälle – Stichwort NSU, rassistische Morde in Hanau, die Ermordung von Oury Jalloh –, die deutlich machen, dass Rassismus vor allem ein systemisches Problem ist. Dieser ist nicht davon abhängig, ob es dort eine bewusst rassistische Agenda oder einzelne rassistische Personen gibt. Genau das wird aber suggeriert, wenn jedes Mal von »Einzelfällen« die Rede ist. Was dieses Bewusstsein für strukturellen Rassismus angeht, ist Großbritannien, glaube ich, weiter als Deutschland.

Adam Elliott-Cooper: In Großbritannien ist der Anteil postkolonialer Migrant*innen an der Bevölkerung deutlich größer als in Deutschland, und das hatte wahrscheinlich einen gewissen zivilisierenden Einfluss. Aus den karibischen, afrikanischen, asiatischen und arabischen Communitys heraus hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine anti-rassistische Bewegung entwickelt. Die hat das britische Establishment gewissermaßen gezwungen, die Existenz von institutionalisiertem Rassismus zuzugeben. In Deutschland gab es zwar diese Art der antirassistischen Bewegungen nicht, aber zum Erbe des Nationalsozialismus gehörte die Auseinandersetzung mit einer anderen Art des staatlichen Rassismus. Das bedeutet vielleicht, dass Deutschland antimuslimischen, antischwarzen oder antimigrantischen Rassismus vernachlässigt hat. Obwohl es gezwungen ist, sich mit dem Erbe des Antisemitismus und Faschismus zu beschäftigen. Großbritannien wiederum hat sich zwar in einem gewissen Maße dem Rassismus gegenüber Schwarzen und anderen Gruppen, aber noch längst nicht wirklich den Folgen seiner imperialen Ambitionen und Geschichte gestellt. Darin ähnelt es Deutschland wahrscheinlich.

Tahir Della: Da stimme ich zu, wobei man auch sagen muss, dass die Geschichtsschreibung in Deutschland die Kolonialepoche lange weitgehend ausgeblendet hat. Dazu gehören auch Aktivist*innen aus den Kolonien die in den 1920er Jahren beispielsweise in Hamburg oder Berlin politisch tätig waren. Kolonialmigration hat auch in Deutschland eine Rolle gespielt, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie in England, allein schon aufgrund der Dauer der kolonialen Bestrebungen. Trotzdem werden die Kontinuität zwischen Kolonialepoche, deutschem Faschismus und Nachkriegsepoche ganz klar, wenn man sich etwas gründlicher damit beschäftigt. Der ISD ist es sehr wichtig, uns in der Erklärung rassistischer Verhältnisse auf die koloniale Epoche zu beziehen. Zu zeigen, dass sich bereits in den 1920er Jahren Aktivisten aus den Kolonien gegen Polizeikontrollen zur Wehr gesetzt haben, oder sich für ein erweitertes Staatsbürgerschaftsrecht eingesetzt haben, für die Möglichkeit zu arbeiten, sich frei zu bewegen. Diese Themen sind noch immer aktuell und machen deutlich, dass diese Einordnung »Schwarz gleich fremd gleich nicht dazugehörig gleich Gefährder« sich über ganze Epochen hinweg erhalten hat. Das erklärt vielleicht auch noch mal, wie Rassismus in Deutschland etwas anders angelegt ist als in Großbritannien.

Aus der unterschiedlichen Kolonialgeschichte und dem anderen Umgang mit kolonialer Migration resultiert auch, dass es in Großbritannien schon länger eine sichtbare Schwarze Mittelschicht gibt. Welche Rolle spielt die für Ihre Arbeit Herr Elliott-Cooper?

Adam Elliott-Cooper: Diese Mittelschicht existiert bei uns genau wie in den USA und ist überwiegend Teil des britischen Establishments. Die konservative Partei hat mittlerweile zahlreiche Schwarze und Asiatische Abgeordnete oder gar Kabinettsmitglieder. Aktuell haben wir einen Premierminister, dessen Vorfahren aus Südasien kommen – was ihn nicht daran hindert, eine Politik zu betreiben, die Menschen ohne Papiere deportiert oder an der Überquerung des Ärmelkanals hindert. Da unterscheidet sich seine Politik in keinster Weise von der seiner weißen Amtsvorgänger*innen. Ich glaube, die Integration einer verhältnismäßig kleinen Gruppe Schwarzer oder asiatischer Personen in die Mittelschicht erzeugt die Illusion von Fortschritt. Darin waren die Briten schon immer gut, auch in ihren Kolonien in Indien oder Afrika vergaben sie Machtpositionen in der Polizei, der Justiz oder als Steuereintreiber an lokale Personen. Dadurch schufen sie die Illusion, das Britische Empire funktioniere weniger rassistisch als andere Kolonialmächte. Etwas Ähnliches sehen wir meines Erachtens heute. Angesichts der weiterhin bestehenden tiefgreifenden Ungleichheiten würde ich der Existenz einer Schwarzen Mittelklasse nicht zu viel Bedeutung beimessen.

Tahir Della: Wir haben aktuell jetzt einige Parlamentarier*innen in Landesparlamenten und im Bundestag sowie Minister*innen. Die stehen natürlich vor der Herausforderung, einerseits der kritischen Zivilgesellschaft Gehör zu verschaffen und sich andererseits einer Struktur anpassen zu müssen, die nicht sonderlich offen für Kritik ist. Das trifft noch stärker auf Menschen zu, die sich im Wirtschaftsleben bewegen, wo sie kleinere Spielräume haben, als ich jetzt beispielsweise als Aktivist. Aber – auch wenn ich persönlich den Aktivisten der Kommunistischen Internationale in den 1920er Jahre näher stehe als jemandem, der im Management von BMW oder Siemens arbeitet – auch diese Leute machen sichtbar, dass wir in Deutschland eine wachsende und starke Schwarze Community haben. Wir sind inzwischen, glaube ich, bei 1,2 Millionen afrodiasporischer Menschen, die potenziell zu einer sukzessiven Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Das heißt nicht, dass ich erwarte, dass sie mit uns auf die Straße gehen und politische Kämpfe austragen. Aber sie könnten dazu beitragen, in Strukturen, wo wir als Aktivist*innen gar nicht reinkommen, Debatten anzustoßen – beispielsweise über die Frage, wer gehört dazu und wer muss gehört werden wenn es darum geht, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

Adam Elliott-Cooper: Einverstanden, Pragmatismus ist wichtig und dazu gehört es auch, den Mainstream und die parlamentarische Politik so gut wie möglich zu nutzen. Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen: Viele Schwarze haben die britische Staatsbürgerschaft und gelten als Briten, wenn sie beispielsweise für das Amt des Premierministers kandidieren wollen. Doch wenn sich jemand bestimmte Straftaten zuschulden kommen lässt, wird ihr oder ihm diese »Britishness« wieder abgesprochen. Man kann ihnen die Staatsbürgerschaft aberkennen und sie in ein Land deportieren, in dem sie zwar nie gelebt haben, dessen Staatsangehörigkeit aber ihre Eltern oder Großeltern vielleicht mal besaßen. Zu dieser »bedingten Britishness« passt eine bestimmte Terminologie der Medien, die jemanden als »in Großbritannien geboren« bezeichnen, was einen sehr subtilen Unterschied zu einfach nur »britisch« darstellt. Es steht für »ja, diese Person wurde zwar hier geboren, aber sie ist trotzdem nicht wirklich eine von uns«. Ich glaube, die Zugehörigkeit ist weiterhin an eine bestimmte Loyalität zur britischen Nation geknüpft oder mindestens an die Anpassung an bestimmte Normen.

Ich möchte noch mal auf den Zuwachs rassistischer Polizeimaßnahmen zurückkommen. Womit erklären Sie das, und inwieweit hängt es mit der ökonomischen Situation beider Länder zusammen?

Adam Elliott-Cooper: Stuart Hall hat dazu 1979 ein hervorragendes Buch mit dem Titel »Policing the Crisis« veröffentlicht. Darin erklärt er, dass in einer Krise des Kapitalismus, die von der Regierung nicht gut bewältigt wird, diese Regierung in den Augen der Wähler*innen an Legitimität verliert. Weil sie nicht für die erwarteten Renten, Arbeitsplätze oder die nötigen sozialstaatlichen Maßnahmen sorgt, oder was die Bevölkerung ansonsten erwartet. Wenn der Staat also nicht willens oder in der Lage ist, die ökonomische Krise zu bewältigen, muss er zum Erhalt seiner Legitimität eine andere Krise in den Fokus rücken. Statt einer Krise des Kapitalismus also eine Krise bei Sicherheit und Ordnung. Indem eine Regierung die bewältigt, verschafft sie sich die nötige Legitimierung bei den Wähler*innen und sichert ihren Machterhalt. Ich finde, das beschreibt exakt die gegenwärtige Situation: Wir haben eine Krise der Sozial- und Gesundheitssysteme, eine Pandemie, eine drastische ökologische und Klimakrise – eigentlich multiple Krisen, mit denen die Regierungen nicht umgehen können oder wollen. Deshalb versuchen sie, eine reale oder imaginierte Krise bei Sicherheit und Ordnung für ihre Legitimationszwecke auszunutzen. Ich finde, das ist in den westlichen Demokratien inzwischen zu einem der mächtigsten Wahlkampfinstrumente überhaupt geworden.

Tahir Della: Das finde ich spannend, denn obwohl die konkreten Krisen und Debatten und ihre Anlässe in unseren beiden Ländern unterschiedlich sind, beobachten wir identische Mechanismen des politischen Umgangs. Beispielsweise vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine: Vor sechs, sieben Jahren wurde in Deutschland noch behauptet, der Zuzug Geflüchteter, und Migration ganz allgemein, stelle das Land vor unlösbare Herausforderungen. Jetzt ist diese Gesellschaft plötzlich gewillt, Menschen in einer viel höheren Anzahl aufzunehmen, ohne Kontrollmechanismen einzuführen, ohne die Menschen in einem Lagersystem unterzubringen oder vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Einfach nur, weil die Markierung wegfällt, es handele sich um Menschen aus sogenannten »anderen Kulturkreisen«. Über die inneren Logiken derartiger rassistisch durchtränkter Strukturen gibt es aber keine systematischen Debatten. Stattdessen ist die einzige Antwort des Staates, mit repressiven Maßnahmen gegen marginalisierte Gruppen vorzugehen. Er etabliert ein Grenzregime, das nicht Fluchtursachen beseitigt, sondern Menschen auf der Flucht bekämpft und tötet. Innenpolitisch werden Vorfälle wie die Angriffe gegen Rettungskräfte in der Silvesternacht in Berlin anders eingeordnet, wenn sie von migrantisch gelesenen Menschen ausgeübt werden. Es gibt eine völlig andere, komplett rassistisch durchzogene Einschätzung, welche Konsequenzen das angeblich für die Gesellschaft hat. Der Umgang mit solchen Krisen läuft deshalb letztlich immer darauf hinaus, die Sicherheitskräfte noch besser dafür auszustatten, diese Gruppen noch stärker ins Visier zu nehmen und ihre Rechte weiter zu beschneiden. Meiner Ansicht nach besteht die alles überwölbende Krise darin, dass es in der Politik gar keine Antworten darauf gibt, wie verantwortlich mit Debatten, Konflikten und Krisen umgegangen werden kann. Darunter leiden letztlich immer dieselben Gruppen am stärksten, was sich ja auch in der Pandemie besonders deutlich gezeigt hat.

Was folgt daraus für die Arbeit in Ihren Organisationen?

Tahir Della: Zumindest für Deutschland würde ich sagen, wir nutzen die konkreten Herausforderungen und Konflikte zu wenig dafür, mal eine Systemdebatte zu organisieren. Denn wie Adam richtig sagt, haben wir es ja mit multiplen Krisen zu tun. Die haben aber alle ihre Ursache darin, dass wir in Systemen leben, die bis heute von der jahrhundertelangen globalen wie lokalen Ungleichheit profitiert haben. Weil das aber nicht mehr so funktioniert, stehen wir vor der Herausforderung, Debatten zu führen, die das System mal in der Mittelpunkt stellen. Statt immer nur auf einzelne Vorkommnisse zu reagieren, müssten wir uns für Zusammenhänge und Ursachen interessieren. Davor schreckt die Gesamtgesellschaft aber immer noch zurück.

Adam Elliott-Cooper: Mein Eindruck ist schon, dass Debatten über Systeme zunehmen. Zum Beispiel dadurch, dass wir in Großbritannien und Deutschland, aber auch den Niederlanden und Frankreich mehr über das imperiale Erbe nachdenken und diskutieren. Das zwingt Europa zuzugeben, dass Rassismus eben nicht entstand, weil Menschen mit schwarzer und brauner Hautfarbe im Laufe des 20. Jahrhunderts in beträchtlicher Anzahl hier ankamen. Ganz im Gegenteil wurde Rassismus seit 400 Jahren von Europa im Zuge seiner imperialen Ausdehnung in die Welt exportiert. Auf diese Weise lassen sich auch die rassistischen Strukturen der Institutionen leichter verstehen, die während dieser imperialen Expansion entstanden sind. Egal ob es sich um Institutionen der kapitalistischen Ökonomie handelt oder um politische, staatliche oder auch kulturelle. Mit einem derartigen postkolonialen Verständnis können wir uns besser auf Strukturen konzentrieren statt auf persönliche Vorurteile.

Tahir Della: Ja, und damit wird auch erklärbar, warum die europäischen Mächte sich bislang ihrer imperialen und kolonialen Geschichte nie gestellt haben und für deren bis heute spürbare Folgen Verantwortung übernommen haben. Dann hätten sie nämlich zugeben müssen, dass die Strukturen und Institutionen, die im Laufe dieser 400 oder 500 Jahre entstanden sind, dringend durch etwas Besseres ersetzt werden müssen. »Postkolonial« ist für mich mittlerweile ein bisschen zur Phrase verkommen. Aber wenn tatsächlich Verantwortung übernommen würde für die koloniale Vergangenheit, hätte das ernsthafte strukturelle Konsequenzen für die heutigen Gesellschaften in Deutschland, Großbritannien und anderen europäischen Staaten.

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die diesen Monat noch exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt. Ab April liegt OXI nicht mehr monatlich bei. es kann jedoch separat unter folgendem Link abonniert werden: https://oxiblog.de/oxi-abo/

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