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Der lange Schatten von Covid-19
Die Ursachen für Spätfolgen sind vielfältig und nur ansatzweise geklärt, Standardtherapien lassen auf sich warten
Bei etwa jedem zehnten Covid-Fall halten Beschwerden über die akute Krankheitsphase hinaus an. Die Medizin tut sich schwer damit, Long Covid beziehungsweise Post Covid zu erklären und zu behandeln. Wahrscheinlich liegt dies daran, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 ganz unterschiedliche grundlegende Körperfunktionen aus dem Gleichgewicht bringen kann.
Zu Beginn der Pandemie interessierten sich Öffentlichkeit und Wissenschaft vor allem für die akute Bedrohung, die teils dramatische Situation auf den Intensivstationen der Krankenhäuser und die Möglichkeiten, sich vor der Infektion zu schützen. Mit dem allmählichen Übergang in die endemische Phase nach drei langen Jahren Covid-19 treten die Spätfolgen der Krankheit in den Vordergrund. Werden sie seltener auftreten, weil die Zahl der schweren Vorläufe sinkt? Oder droht eine »Pandemie nach der Pandemie«, weil auch mildere Erkrankungen das Syndrom auslösen können?
Mindestens 65 Millionen Menschen weltweit leiden nach einer Covid-19-Infektion unter Spätfolgen in irgendeiner Form, so der Stand zum Jahreswechsel 2022/23. Mittlerweile haben sich die Bezeichnungen »Long Covid« (LC) und »Post-Covid-Syndrom« (PCS) eingebürgert. LC bezeichnet Beschwerden, die länger als vier Wochen nach der ursprünglichen Infektion anhalten und die Betroffenen erheblich in ihrem Alltag einschränken. Vom PCS sprechen Mediziner*innen, wenn die Beschwerden über zwölf Wochen hinaus andauern. Mittlerweile beschäftigen sich Medizin und Pharmaindustrie intensiv mit PCS. Die Bundesregierung hat ein eigenes Förderprogramm zum Thema aufgelegt und mit immerhin 6,5 Millionen Euro ausgestattet.
Wie lange ist lang?
Dass PCS bis zu einem halben Jahr nach der ursprünglichen Erkrankung anhält, ist keineswegs ungewöhnlich. Eine im November 2022 in »PLOS Medicine« veröffentlichte Studie von Dresdener Wissenschaftler*innen verglich rückblickend die Häufigkeit von anhaltenden Gesundheitsproblemen von Infizierten und Nichtinfizierten. Die Daten von sechs deutschen Krankenkassen stammten von knapp 12 000 Kindern und Jugendlichen sowie 145 000 Erwachsenen. In der Covid-19-Gruppe waren gesundheitliche Beschwerden um ein Drittel häufiger als bei Nichtinfizierten. Überraschenderweise waren die Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen fast ebenso stark erhöht. Wie sich die Lage nach einem halben Jahr weiterentwickelte, wurde allerdings nicht untersucht.
Das US-amerikanische Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) berechnete auf Grundlage von Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus den Jahren 2020 und 2021, dass in Europa insgesamt in diesem Zeitraum 17 Millionen Menschen zeitweise PCS aufwiesen. Interessant sind die Aussagen des Instituts zur Dauer: Ungefähr sechs Prozent zeigten nach drei Monaten immer noch Beschwerden, ungefähr ein Prozent sogar noch nach zwölf Monaten.
Bei der überwiegenden Zahl der Betroffenen sind die Beschwerden allerdings vorübergehend. Sie entwickeln keine chronische Erkrankung, sondern durchlaufen einen oft äußerst langwierigen Genesungsprozess, teils mit schmerzhaften Rückschlägen. Wie aber Personen ausfindig gemacht werden können, bei denen es zur Chronifizierung kommt, ist wiederum unklar. Zu den Risikofaktoren gehören psychische und Autoimmunkrankheiten, Bluthochdruck und ein schwerer Verlauf, insbesondere wenn eine intensivmedizinische Behandlung notwendig war.
Die Angaben zum Anteil von LC bzw. PCS nach Covid-19 liegen je nach Quelle weit auseinander. Laut einem Bericht des Robert-Koch-Instituts schwanken sie bei Erwachsenen zwischen 7,5 und 41 Prozent. Diese große Bandbreite liegt an unterschiedlichen Definitionen, aber auch daran, dass sich die Untersuchungsgruppen stark unterscheiden: von lediglich selbst berichteten Infektionen bis zu Menschen, die im Krankenhaus behandelt oder sogar beatmet werden mussten. »Die Häufigkeit kann noch nicht verlässlich geschätzt werden«, lautet das ernüchternde Fazit der RKI-Epidemiolog*innen.
Weniger Langzeitfolgen mit Omikron
Die Häufigkeit und den Charakter der Langzeitfolgen einzuschätzen, wird zudem dadurch erschwert, dass das Virus selbst sich verändert. Fast alle bisher vorhandenen Untersuchungen beleuchten nur die ersten Wellen von Covid-19, nicht aber die Veränderungen durch die Omikron-Variante, die bekanntlich seit Jahresbeginn 2022 dominiert. Neuere Studien deuten darauf hin, dass mit dem abnehmenden Anteil schwerer Erkrankungen auch die Zahl derjenigen abnimmt, die unter LC oder PCS leiden (und zwar trotz der absolut größeren Fallzahl von Covid-19-Infektionen). So verglichen englische Wissenschaftler die Häufigkeit von LC bei Erwachsenen, die zwischen Dezember 2021 und März 2022 erkrankten, je nach der auslösenden Virus-Variante. Bei der Delta-Variante zeigten 10,8 Prozent der Infizierten länger als drei Monate Beschwerden, unter den mit der Omikron-Variante Infizierten dagegen nur 4,5 Prozent.
Dass mittlerweile große Teile der Bevölkerung geimpft sind, dürfte ebenfalls dazu beitragen, dass PCS seltener auftreten wird. Die Hybridimmunität durch Immunisierung und eine (wiederholte) Konfrontation mit dem Erreger bietet offenbar einen gewissen Schutz gegen Langzeitfolgen. Allerdings berichtete im November 2022 eine Studie aus den USA, dass erneute Covid-19-Infektionen das relative Risiko erhöhen, zu versterben, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden und unter gesundheitlichen Problemen zu leiden.
In der Öffentlichkeit wurde das Ergebnis zum Teil so interpretiert, als würde die Wahrscheinlichkeit für PCS mit Reinfektionen steigen – bemerkenswerterweise auch vom bundesdeutschen Gesundheitsminister, der twitterte: »Mit jeder zusätzlichen Infektion steigt das Risiko von Langzeitschäden«. Aus der Untersuchung lässt sich allerdings dieser Schluss nicht ableiten. Auf der Basis von Daten der US-Veteranen-Behörde hatten die Forscher*innen Nichtinfizierte, einmal und mehrmals Infizierte zwischen März 2020 und April 2022 miteinander verglichen. Die Gruppen wurden aber nicht entsprechend des Alters oder des zeitlichen Abstands zur ursprünglichen Infektion zusammengesetzt, sodass zum Beispiel der insgesamt schlechtere Gesundheitszustand kurz nach einer erneuten Infektion nicht überrascht.
Die vorherrschende Meinung unter Immunolog*innen ist, dass die Welle von PCS-Fällen allmählich abebben werde. Für den Teil der Betroffenen, die gar nicht mehr auf die Beine kommen und beispielsweise kaum arbeitsfähig sind, ist dies allerdings kein Trost. Noch ist unbekannt, wer besonders gefährdet ist, PCS über ein halbes Jahr hinaus zu entwickeln, und auf welche Ursachen das erhöhte Risiko dafür zurückzuführen ist. Vorbeugung und zielgenaue Schutzmaßnahmen sind deswegen besonders schwierig.
Große Bandbreite der Symptome
PCS überhaupt zu erkennen und von anderen Krankheiten zu unterscheiden, ist für Ärzt*innen keineswegs einfach. Die WHO nennt über 200 verschiedene Symptome im Zusammenhang mit PCS. Viele der typischen Symptome – zum Beispiel Gelenkschmerzen, Erschöpfungszustände, Verdauungs-, Schlaf- und Konzentrationsstörungen – treten auch bei anderen weitverbreiteten Krankheiten auf. Viele der PCS-Patient*innen fangen sich ständig neue Infekte ein. Auch psychische Symptome wie Depressionen bis hin zu Angststörungen treten auf.
Eine Metastudie, die 1,2 Millionen Erkrankte aus verschiedenen Ländern zwischen März 2020 und Januar 2022 einschloss, zeigte, dass Atemwegsprobleme, Fatigue und kognitive Beeinträchtigungen die häufigsten Beschwerden waren. Aber selbst das »Leitsymptom« Erschöpfung/Erschöpfbarkeit zeigen nicht alle Patient*innen. Je länger die ursprüngliche Infektion zurückliegt, desto unklarer wird der Zusammenhang mit den gegenwärtigen Krankheitszeichen, was die Diagnose noch schwieriger macht.
Die Mediziner*innen kennen außerdem keine eindeutigen Biomarker, um die PCS-Patient*innen beispielsweise mit Bluttests zu erkennen. Eine Gruppe von Neurolog*innen und Psycholog*innen untersuchte 171 Betroffene, die sie in der Post-Covid-Ambulanz des Universitätsklinikums Essen rekrutierten. Die Studie wurde zwischen Januar und August 2021 durchgeführt. Es fanden sich keine spezifischen Veränderungen bei den Blutwerten, bei der Lungenfunktion – zum Beispiel bezüglich des Sauerstoffumsatzes –, keine strukturellen Veränderungen im Gehirn oder Schädigungen des Nervensystems.
Die eigentliche Krux ist allerdings etwas anderes: Trotz intensiver und mittlerweile dreijähriger Forschung sind die körperlichen Mechanismen, die PCS zugrunde liegen, immer noch unverstanden. Ohne Erklärung für den Krankheitsprozess kann aber keine »kausale Therapie« durchgeführt werden. Die Behandlungen müssen notdürftig bei den Symptomen ansetzen und diese lindern – für Patient*innen mit chronischem und schwerem PCS äußerst frustrierend.
Vielfalt an möglichen Ursachen
Ursprünglich galt das Virus als (gefährliche) Erkrankung der Atemwege. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass es sich bei Covid-19 um eine »Multiorganerkrankung« handelt. Das Virus tritt über Mund und Nase ein, verbreitet sich danach aber über die Blutbahn im ganzen Körper. Es vervielfältigt sich in den Nieren, der Leber, dem Herz, in Gehirn und Blut. Welche Infektionsfolgen dann zu PCS führen, ist äußerst umstritten.
Diskutiert werden unterschiedliche Mechanismen und Ursachen, die sich grob in vier Bereiche gliedern lassen: Störungen von Körperfunktionen durch geschädigte Organe, eine andauernde unterschwellige Infektion mit Sars-CoV-2, eine Störung der Immunreaktion, durch die körpereigenes Gewebe angegriffen wird, und schließlich eine erneute Vermehrung von Herpes- und Hepatitits-B-Viren (die bekanntlich im Körper überdauern, auch wenn sie keine akuten Krankheitszeichen auslösen).
All diese Erklärungsansätze schließen sich nicht gegenseitig aus. So könnte beispielsweise die Schädigung des Mikrobioms im Darm die Immunabwehr insgesamt schwächen und »schlafenden« Herpesviren die Möglichkeit eröffnen, sich zu vermehren. Das Immunsystem wäre dann nicht mehr in der Lage, Entzündungen wirksam und zielgerichtet zu steuern, wodurch wiederum die Anfälligkeit für weitere Erreger steigen könnte etc. Diese Gemengelage macht ein Eingreifen mit Medikamenten oder anderen Therapien schwierig. Die Immunabwehr lediglich abzubremsen (zum Beispiel mit Antihistaminika oder Steroiden), unterdrückt bestenfalls die Symptome.
Möglicherweise kann sich das Virus (trotz oder wegen einer heftigen, aber nicht zielgenauen Abwehrreaktion) in bestimmten Organen über die akute Phase hinaus festsetzen. Jedenfalls lassen sich bei manchen Menschen Virusreste im Darm und in Immunzellen noch Monate nach der ursprünglichen Infektion nachweisen, meist das Stachelprotein. Auch diese Viren oder Virenbruchstücke könnten zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems beitragen. Umstritten ist, ob dies Entzündungsreaktionen übermäßig fördert oder im Gegenteil übermäßig behindert. Wie dem auch sei, die körpereigene Abwehr gerät durch Covid-19 aus dem Gleichgewicht.
Mehr Fragen als Antworten
Solche Zusammenhänge nachzuweisen und im Detail aufzuklären, damit tut sich die Forschung immer noch schwer. Klar ist, dass das Virus die Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigen kann, mit der das Eindringen von Krankheitserregern ins Gehirn verhindert wird. Auf diesem Weg könnten dann Autoantikörper ins Gehirn gelangen und Teile des Nervensystems schädigen. Viele Neurolog*innen halten das für die Ursache des gestörten Geschmacks- und Geruchssinns und die kognitiven Beeinträchtigungen bei PCS.
Klar ist weiterhin, dass die ursprüngliche Infektion und die darauffolgende Entzündungsreaktion das Gewebe schädigen kann, vor allem in der Lunge und in den Blutgefäßen. Sars-CoV-2 dringt in erster Linie über den ACE2-Rezeptor in die Zellen ein. Die Abkürzung steht für »Angiotensin-konvertierendes Enzym 2«, ein wichtiges Stellglied in dem komplizierten Mechanismus, mit dem der Körper Blutgefäße weitet oder verengt, aber auch Entzündungen und den Flüssigkeitshaushalt steuert. Covid-19-Patient*innen mit schwerem Verlauf entwickeln typischerweise Autoantikörper gegen ACE2, woraufhin der Sauerstoffgehalt in ihrem Blut und der Druck in den Arterien fällt. Die Autoantikörper verwechseln sozusagen gesunde und infizierte Zellen, weil der Erreger sich als körpereigene Struktur tarnt (Immunolog*innen sprechen von der »molekularen Mimikry«).
Sars-CoV-2 kann die Immuntoleranz aus dem Gleichgewicht bringen, auch dies steht mittlerweile fest. An welchen Stellen des Systems und auf welche Weise dies geschieht, ist aber weiterhin unklar, weshalb die verschiedenen wissenschaftlichen Studien nacheinander fast sämtliche Bestandteile des Immunsystems als verdächtig bezeichnen.
Für die Betroffenen bedeutet das, dass bisher keine Standardtherapie existiert. So schaden beispielsweise Sport und Bewegung einigen Patient*innen, während sie anderen nutzen. Weil Covid-19 ganz unterschiedliche Körperfunktion beeinträchtigt, ist ein medikamentöses Allheilmittel für PCS nicht zu erwarten.
Gut belegt ist, dass ausreichend Zeit und Geduld für Erholung und Wiederherstellung bei Covid-19 PCS entgegenwirkt. Trotzdem ist immer wieder die Forderung zu hören, Infizierte sollten möglichst schnell wieder zurück zur Arbeit und solche ohne Symptome gar nicht zu Hause bleiben – im Hinblick auf die Spätfolgen medizinisch fragwürdig.
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