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Sieger sollen zu Verlierern werden
Nach der Wahlrechtsreform werden manche Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einziehen
Vor der Bundestagswahl 2021 warb der Linke-Politiker Gregor Gysi in seinem Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick mit dem Spruch: »Tschuldigung, ich brauch mal wieder Ihre Erststimme.« Der zu diesem Zeitpunkt 73-Jährige war sich offensichtlich sicher, dass ihm seine Stammwähler im Berliner Südosten diesen Wunsch nicht verwehren würden. Gysi hatte den Wahlkreis seit 2005 immer gewonnen. Am Ende votierten 35,4 Prozent für ihn. So wenig wie nie zuvor, aber es reichte. Die Begeisterung für Gysis Partei hielt sich hingegen in Grenzen. Sie kam in Treptow-Köpenick nur auf 16 Prozent und landete bundesweit unter der Fünf-Prozent-Hürde.
Weil neben Gysi auch Gesine Lötzsch in Berlin-Lichtenberg und Sören Pellmann in Leipzig gewannen, rutschte die Linkspartei durch die Grundmandatsklausel doch noch in den Bundestag. Wer drei gewonnene Direktmandate vorweisen kann, umgeht die Fünf-Prozent-Regelung bei den Zweitstimmen.
Das soll nach der nächsten Wahl nicht mehr gelten. So sieht es jedenfalls die Wahlrechtsreform vor, welche die Koalition aus SPD, Grünen und FDP vor wenigen Tagen vorgelegt hat. Bereits am Freitag soll sie vom Bundestag verabschiedet werden. Das Vorhaben wird nicht nur von den Oppositionsparteien CDU, CSU und Linkspartei kritisiert. Am Donnerstag wandte sich der Fachverband »Mehr Demokratie« mit einem Eil-Brief an alle 736 Bundestagsabgeordneten. Die Bundesvorstandssprecher des Vereins, Claudine Nierth und Ralf-Uwe Beck, bezeichneten die anstehende Streichung der Grundmandatsklausel als »demokratiepolitisch bedenklich«. Die Streichung sei unnötig, um das Ziel einer Bundestags-Verkleinerung zu erreichen, heißt es in dem Brief.
Dort steht weiter: »Der Bundestag wäre ohne Grundmandatsklausel weniger repräsentativ. Bereits jetzt bleiben aufgrund der Sperrklausel bei jeder Wahl mehrere Millionen Stimmen unberücksichtigt (2021: 3,9 Millionen Stimmen). Mit der Abschaffung der Grundmandatsklausel könnte diese Zahl noch einmal deutlich steigen.« Weil es keinen erkennbaren Grund für die Abschaffung der Klausel gebe, »könnte in der Bevölkerung der Eindruck entstehen, die regierenden Parteien würden hier in eigener Sache entscheiden«.
Neben der Linken könnte auch die CSU von der Neuregelung betroffen sein. Sie hatte es jüngst mit 5,2 Prozent nur knapp über die Sperrklausel geschafft. In Bayern geht traditionell eine ganze Reihe von Direktmandaten an die Konservativen. 2021 waren es 45. Sollte die CSU bei der nächsten Bundestagswahl, die 2025 stattfinden soll, unter fünf Prozent rutschen, wären ihre Tage im Bundestag gezählt.
Nicht einmal einzelne Abgeordnete einer Partei wie die Berliner Linke-Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch und Petra Pau 2002 dürften noch im Bundestag sitzen.
Somit entsteht der Eindruck, dass Sozialdemokraten, Grüne und FDP in erster Linie ihren Konkurrenten schaden wollen. Die Regierungsparteien geben hingegen vor, Kosten sparen zu wollen. In der Wahlrechtsreform ist vorgesehen, dass die Zahl der Abgeordneten im Bundestag nur noch 630 betragen darf. Zurzeit sind es 736 Parlamentarier. Es wird weiterhin eine Erst- und Zweitstimme geben – eine für den Direktkandidaten im Wahlkreis und eine für die Partei.
Eine Neuerung ist, dass ausschließlich die Zweitstimme ausschlaggebend dafür sein soll, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag erhält. Das bedeutet, dass ein Wahlkreisgewinner nur dann in den Bundestag einziehen darf, wenn seine Partei ausreichend Zweitstimmen erreicht hat. Deswegen wird es zu Fällen kommen, in denen Politiker nicht im Bundestag vertreten sein werden, obwohl sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen geholt haben.
Das dürfte nicht nur gegenüber den Wählern schwer zu begründen sein. Auch juristisch wird über das Thema noch gestritten. Es wird erwartet, dass Union und Linke vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klagen werden. Die Neuregelung wird unter anderem wegen der Ungleichbehandlung der Kandidaten kritisiert. Fraglich ist aber, wie schwerwiegend das ist, wenn nur ein oder zwei Dutzend von den insgesamt 299 Wahlkreis-Gewinnern keinen Sitz im Bundestag ergattern werden.
Strittiger dürfte die Abschaffung der Grundmandatsklausel sein. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in einem Urteil von 1997 grundsätzlich hinter sie gestellt. Bei mehreren Direktmandaten könne der Gesetzgeber in diesem Erfolg ein Indiz dafür sehen, »dass diese Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen«, hieß es. Ob dies nun weiterhin für die Klausel spricht, bleibt abzuwarten. Sie hat in Deutschland eine lange Tradition und ermöglichte es in den 1950er Jahren der rechten Deutschen Partei, in den Bundestag einzuziehen. 1994 profitierte die PDS von der Grundmandatsklausel.
Begründen lässt sich die Regelung unter anderem mit regionalen Besonderheiten. Die CSU tritt ausschließlich in Bayern an und ist dort seit Jahrzehnten eine Macht. Die Linke ist in Ostdeutschland nicht mehr so stark wie früher, aber bei der Bundestagswahl 2021 kam sie dort immerhin auf 10,4 Prozent der Zweitstimmen und drei Direktmandate. »Der Wählerwille wird vor allem in Ostdeutschland und Bayern missachtet«, konstatierte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch. Deswegen geht es davon aus, dass die Wahlrechtsreform vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand haben wird.
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