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Zum Tod von Antje Vollmer: Ruhe im Sturm
Mit Vollmer scheidet eine Politikerin, die sich am Ende von den Grünen emanzipierte. Ein Nachruf
Antje Vollmer kam bis zuletzt nicht zur Ruhe. Obwohl es ihr bereits schlecht ging, ist es keine vier Wochen her, dass sie einen Essay veröffentlichte, in dem sie »sehr entschieden« ihre Position zu Pazifismus und Ukraine-Krieg darstellte, wie sie selbst es der Redaktion der »Berliner Zeitung« beschrieb, die den Text veröffentlicht hat. Sie spricht von einer großen Last, der sie sich damit entledigte. Viel Zustimmung wurde ihr nach eigenem Bekunden dafür zuteil. Am Mittwoch ist Antje Vollmer verstorben.
Ein bitteres Fazit zieht die 79-Jährige in ihrem Essay, ausgelöst vom Anblick eines mit Panzern beladenen Güterzuges. »Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.« Weil diese Panzer womöglich gen Osten rollten, über alle Erfahrung hinweg, die die Menschen in Europa in langer leidvoller Geschichte immer wieder machen mussten, weil sie womöglich auf dem Weg waren an den Rand des Abgrunds, an dem »die Welt sich vielleicht zum letzten Mal in einer Konfrontation mit möglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenübersteht«.
Dies ist zugleich Erklärung dafür, warum Vollmer sich erneut auch einer Initiative von Sahra Wagenknecht angeschlossen hatte, indem sie das »Manifest für Frieden« als Erstunterzeichnerin unterstützte. Deutschland sei ins Zentrum der antirussischen Gegenstrategien gerückt, so Vollmer. Und es stehe womöglich ein erneutes leidvolles Scheitern bevor. Wagenknecht und Alice Schwarzer hatten mit ihrer Initiative für eine Verhandlungsoffensive und den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine neben der Zustimmung vieler Menschen einen Sturm der Entrüstung in der tonangebenden Öffentlichkeit ausgelöst.
Vollmer stellte sich damit auch ein letztes Mal selbst in den Sturm. Gegenwind hat sie nie gescheut. Die Verhältnisse trieben sie um, hatten sie einst zu den Grünen getrieben, vor rund fünf Jahren aber schon einmal an die Seite Wagenknechts, als diese ihre Sammlungsbewegung »Aufstehen« ins Leben rief. »Der Kampf für die Menschenrechte, ursprünglich ein pazifistisches Postulat, wird zunehmend willkürlich zur kriegsbegründenden Moral pervertiert«, schrieb Vollmer damals zur Begründung. Ein »Gegenkonzept zum herrschenden Politikmodell der letzten 30 Jahre« müsse gefunden werden. Eine Bewegung, die die »Distanz zum üblichen Parteien- und Politikbetrieb« zu ihrer Wirkungsbedingung erklärt. Die Hoffnung erfüllte sich mit Wagenknechts Bewegung nicht, weshalb Vollmer sie im Jahr darauf wieder verließ.
Die Gründe für ihren Einspruch aber blieben in den Verhältnissen bestehen, an denen Vollmer litt und zu denen sie auf Distanz ging. Fremd wurden auch die Grünen ihrer einstigen Vorzeigepolitikerin. Was habe diese verführt, alles aufzugeben »für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker, und dabei ihre wertvollsten Wurzeln als lautstarke Antipazifisten verächtlich zu machen?«. Und: »Die Außenministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie.«
Als bekennende Pazifistin war Vollmer bei den Grünen zunächst eine von vielen gewesen. Doch die studierte Theologin hatte das Zeug, sich zu behaupten, auch wenn sie sich den ersten politischen Debatten noch »schüchtern und randständig« genähert hatte, wie sie selbst sich erinnerte. Vollmer war 1983 Mitglied der ersten Bundestagsfraktion der Grünen, im Jahr darauf wurde sie Teil des »Feminats«, des dreiköpfigen weiblichen Fraktionsvorstands. Als Vertraute Joschka Fischers, der den Grünen binnen 20 Jahren die Realpolitik schmackhaft machte und den Pazifismus austrieb, lernte sie, wie Machtpolitik funktioniert. Als ihr nordrhein-westfälischer Landesverband, der in der Flügelarithmetik der Partei weit links stand, ihr eine erneute Kandidatur verweigerte, wechselte sie in Fischers Landesverband und zog über die hessische Liste in den Bundestag ein.
Vollmers Bewunderung für Fischer sollte erst später Risse erhalten. Da war die Metamorphose der Partei schon weit gediehen, Entscheidungen für Kriegseinsätze zur Routine geworden, begleitet von nachlassendem Schmerz. »Joschka, rede mit uns darüber, wo sind die Grenzen, wie weit machen wir mit?« rief Vollmer auf einem Parteitag 2001 in Rostock beschwörend, bevor sie einer Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan zustimmte wie die Mehrheit der Delegierten.
Als Vollmer 1994 ins Präsidium des Bundestages gewählt wurde, war das eine Sensation. Sie war die erste Grüne in dieser Position. Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble und Strippenzieher Fischer hatten die Wahl gegen den Willen der SPD durchgesetzt. Seither gilt, dass jede Fraktion einen Vertreter ins Präsidium entsenden darf, worauf sich nun auch die AfD berufen kann. Für Vollmer begann eine Zeit in verführerischer Stellung – als Repräsentantin des Systems, dem sie mit den Grünen zuvor den Kampf angesagt hatte.
Damit steckte sie im selben Dilemma, aus dem die Grünen sich inzwischen befreit haben – durch Bekenntnis zur Machtpolitik. Früh trat auch Vollmer für die Nato-Osterweiterung ein, deren Folgen sie doch zuletzt als verhängnisvoll ansah. Zugleich pflegte sie immer auch ihre eigenen Ziele, Steckenpferde, Schlagzeilen. Vollmer setzte sich für die deutsch-tschechische Versöhnung ein, wie sie sich zuvor für eine Vermittlung zwischen der chinesischen Führung in Peking und Tibet eingesetzt hatte oder – noch früher – für einen Dialog mit den Inhaftierten der RAF eingetreten war.
Der Zeit als Repräsentantin des Bundestages verdankte sie ihr politisches Gewicht, das ihr Freiheit zu eigener öffentlicher Weltbetrachtung verschaffte. Je kritischer diese ausfiel, desto häufiger warf sie dieses Gewicht in die Waagschale. 2013 war sie mit Roger Willemsen Initiatorin eines Aufrufs gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aus Union und SPD, 2014 warnte sie im Aufruf »Nicht in unserem Namen« angesichts der Ukraine-Krise vor erneuter Kriegsgefahr in Europa und forderte eine neue Russlandpolitik. 2018 war es die Bewegung »Aufstehen«, der sie sich anschloss und 2020 die »Gruppe Neubeginn«, die sie mit dem Schriftsteller Ingo Schulze, Ludger Volmer von den Grünen und der Linkspolitikerin Gabi Zimmer gründete, um der jungen Generation von Klimabewegten ein Angebot zum Austausch und für ein gemeinsames Vorgehen zu machen.
Antje Vollmer schied 2005 aus dem Bundestag aus, übernahm vier Jahre später den Vorsitz des von der Bundesregierung eingesetzten Runden Tisches Heimerziehung, von dem viele Betroffene sich am Ende allerdings mehr erhofft hatten. Vor allem arbeitete sie als Publizistin. Vollmer war, was man eine Querdenkerin nennt, wenn man nicht den Rechten auf den Leim geht, die den Begriff für sich reklamieren und damit zunehmend Erfolg in der öffentlichen Wahrnehmung haben. Vollmers »Gruppe Neubeginn« zog in ihrem Angebot an die junge Generation eine klare Linie gegen jedes Missverständnis: »Die Neoliberalen halten an der Lösung der Probleme durch den Markt fest. Die Rechte verbreitet ihre völkische Erzählung von nationalistischen Lösungen durch die Ausgrenzung alles ›Fremden‹. Wir aber brauchen ein Bewusstsein für das Verbindende.«
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