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Unsern täglich Unfall gib uns heute
Sich anders fortbewegen als mit dem Auto? Daran wollen viele Landbewohner nicht einmal denken. Und begreifen deshalb brutale Crashs lieber als unvermeidliche Naturkatastrophen
Kaum eine Woche, in der die Lokalpresse in unserer ländlichen Gegend nicht mindestens einen dieser besonders üblen Landstraßencrashs vermeldet: Passiert sei das Unglück »aus bisher ungeklärten Gründen« heißt es dann häufig, wenn wieder zwei Pkw auf offener Strecke ineinander geknattert sind, ein SUV sich um einen Baumstamm gewickelt hat, ein Lkw in ein Stauende oder ein Kfzler in den Gegenverkehr gerast ist mit seinem Subaru, Kia oder Opel – tatsächlich werden die unfallbeteiligten Fabrikate oft mit ihrer Marke benannt, mitunter sogar typgenau klassifiziert, als ob das irgendwas begreiflicher machen könnte.
Was die wahren Unfallursachen waren, erfährt man in der Regel nachher nicht mehr. Jedenfalls nicht aus der Presse. Statt die ollen Karambolagen aufzuarbeiten, bringen die Redaktionen lieber aktuelle. Und die passieren so beständig, dass die Journalisten mit dem Berichten kaum nachkommen. Ganz wichtig auch: Fotos. Im Lokaljournalismus sind wahrlich einige Meister der Unfallfotografie tätig. Ihre Ablichtungen der zuweilen bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Fahrzeuge lassen einem nicht selten das Skrotum schrumpfen vor Entsetzen.
Noch verstörender als diese im Grunde seit Jahrzehnten anhaltenden Crash-Serien aus Schrott, Blut und Tränen ist nur die dröhnende Stille, mit der die ländliche Leserschaft die Berichterstattung darüber hinnimmt. Ein paar Trauer-Emojis in den Kommentaren unter dem Artikel, mal ein mitfühlendes Wort. Das sind oft die einzigen Reaktionen auf die regelmäßig berichteten Verwüstungen und Vernichtungen von Material, leiblicher Gesundheit und nicht zuletzt auch menschlichem Leben – denn es kommt ja häufig genug vor, dass auch die Autoinsassen grässlich zerrissen, zerstückelt, verbrannt oder sonstwie tödlich zerstört werden infolge von Aufprall, Ineinanderkrachen, Überschlag oder Explosion.
Was wohl los wäre in den Kommentarspalten, wenn auch nur ein Bruchteil der durch Autokollisionen angerichteten Schäden von, sagen wir mal, einem sogenannten »Problemwolf« – also einem sich nicht gefällig verhaltenden Tier – verursacht würde oder von einem psychisch Erkrankten mit womöglich noch falschem Vornamen? Oder – ganz schlimm – durch einen Bahnunfall? Wer es aber wagt, unter den Meldungen über Landstraßenunfälle etwas Hergangspekulatives, Fahrerinnenermahnendes oder gar Kfz-Abträgliches zu äußern, dem schlägt sofort ein vielstimmiger, nicht selten hassgetränkter Vorwurf der Vorverurteilung und Pietätlosigkeit entgegen: Die armen Menschen! Die traumatisierten Angehörigen! Der Hund, der rausgeschleudert wurde! Wie kann man angesichts des Elends nur so zynisch sein, sich kritisch zu äußern.
Oder satirisch gar, wie ich es einmal mit einem selbst aufgenommenen Foto tat: Eingereiht in eine Bilderserie mit dem Titel »Niedersachsens schönste Landesstraßen« sah man darauf »an der pittoresken L 213 in Seevetal«, so die Bildunterschrift, einen Baum, dessen stark beschädigter Stamm klar darauf hindeutete, dass er zuvor von einem Auto gerammt worden war. Auch die teils verbrannten oder verölten im Gras herumliegenden Trümmerteile ließen das ganz offensichtlich erkennen. Für dieses eher besinnliche Unfallfoto gab’s zunächst ein paar Likes und launige Anmerkungen, aber dann auch diese Zuschrift: »Herr Tietz, ist Ihnen möglicherweise in den Sinn gekommen, dass an dieser Unfallstelle jemand schwer verletzt wurde und es unter Umständen zu heftigen Reaktionen der Betroffenen kommen könnte, wenn Angehörige diesen (recht) geschmacklosen Post zufällig sehen und lesen? Möchten Sie das bei Ihren Lieben oder Verwandten erleben?«
Was soll man darauf antworten? Ich tat es so: »Ja natürlich, die armen Menschen, die hier zu Schaden kamen. Wissen Sie schon Näheres? ›Aus ungeklärten Gründen‹ ist ja meistens das einzige, was man über die Ursachen solcher Unfälle erfährt, und ich denke dann immer: Okay, aber ›zu langsam gefahren‹ kann man wohl schon mal ausschließen … Das Foto machte ich, nachdem ich an drei aufeinander folgenden Tagen an der Unfallstelle vorbei geradelt war, ohne dass sich an dem pittoresken Ensemble aus Trümmern und Splittern auf schwarzem Gras etwas veränderte. Aber auch am Verhalten der Autofahrenden, die die L 213 hier täglich zehntausendfach passieren, war keine Veränderung festzustellen. So flott wie immer, also meist erheblich schneller als die erlaubten 70 Kilometer pro Stunde, fuhren sie ungerührt ihrer Wege. Und so taten sie es auch am vierten Tag, als die Unfallspuren – bis auf die Wunden am Baum, die wird man noch lange sehen können – endlich beseitigt worden waren. Und so tun sie es wohl jetzt noch und werden es weiterhin tun. Und kein Posting, egal wie (recht) oder wie geschmacklos es Ihnen erscheinen mag, wird daran etwas ändern. Die ständige Verdrängung unangenehmer Kfz-Wahrheiten und eine verdruckste Unfallfolgenflucht allerdings auch nicht.«
Je größer die Kfz-Abhängigkeit der (wie sie ja selbst immer betonen) ohne eine möglichst unbeschränkte Autonutzung völlig aufgeschmissenen Landbewohner, desto ausgeprägter scheint ihre Neigung, die unschönen Folgen der Automobilität zu negieren. Daran gewöhnt, sich nach Belieben ständig und flink durch die Gegend zu manövrieren, lassen sich die Landeier ungern daran erinnern, vielleicht schon morgen der Nächste zu sein, der von der Lenksäule seines Kfz oder den in den Fahrgastraum geschobenen Motorblock zerquetscht wird. Oder als potenzieller Totschläger, der ja jeder Autofahrende ist, sobald er den Motor seiner Karre startet, für den Tod oder wenigstens eine teilweise Amputation oder Lähmung oder lebenslange Entstellung eines anderen Verkehrsteilnehmers verantwortlich zu sein.
So erdulden sie auf dem Land selbst die grässlichsten Crashfolgen allenfalls leise bedauernd. Als handelte es sich bei dem Phänomen Autounfall um eine Art Naturkatastrophe. Und damit um etwas ähnlich Unvermeidliches wie die Autonutzung selbst, die ja gerade von der Landbevölkerung zumeist als völlig alternativlos erachtet wird. Denn wie, so geht ihre mantragleiche Erzählung, sollen sie sonst zur Arbeit kommen? Wie die Getränkekiste transportieren? Wie die Kinder zum Sport?
Zur Realitätsverweigerung deutscher Land-Kfzler gehört aber genauso jene, wenn auch allenfalls krückentröstliche Ausflucht, dass es doch im Grunde immer nur die anderen sind, die die Rettungskräfte rausschneiden oder von der Fahrbahn kratzen müssen: »Leute, wie Du vielleicht, aber nicht ich. Leute also«, und so habe ich schon ernsthaft welche sagen hören, »die einfach nicht gut fahren können.« Rät man ihnen, doch einfach angepasster und insgesamt langsamer zu fahren, erntet man bestenfalls Unverständnis. Plädiert man gar für ein gesetzlich festgeschriebenes Tempolimit von, sagen wir mal: 30 Stundenkilometern innerorts, 70 auf der Landstraße und 100 auf der Autobahn, muss man auf dem Land mit Schlägen rechnen.
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