Rentenreform: »Legal, aber brutal«

Nachdem die französische Regierung die Rentenreform im Parlament durchdrückte, droht der Protest in Gewalt umzuschlagen

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Premierministerin Elisabeth Borne am Donnerstagnachmittag in der französischen Nationalversammlung ans Rednerpult trat, schlug ihr vom linken Rand des Parlaments scharfe Ablehnung entgegen. Viele Abgeordnete des Linksbündnisses NUPES hielten Transparente hoch und versuchten die Rednerin durch das Singen der Marseillaise zu übertönen. Was die Regierungschefin da erklärte, war längst bekannt. In einer Krisensitzung des Ministerrats im Elysée unter Vorsitz von Präsident Emmanuel Macron war eine Stunde zuvor entschieden worden, das umstrittene Rentenreformgesetz nach Artikel 49.3 der Verfassung mit der Vertrauensfrage zu verbinden und so ohne Abstimmung in Kraft zu setzen. Das kann nur noch verhindert werden, wenn am Montag ein Misstrauensantrag die nötige Mehrheit zum Sturz der Regierung findet. Doch das ist seit Bildung der Fünften Republik 1958 bei insgesamt 55 Misstrauensanträgen erst einmal gelungen, nämlich im Jahr 1960.

Der Kompromisstext des Reformgesetzes, den am Vortag eine Kommission aus je sieben Vertreter beider Kammern des Parlaments ausgehandelt und mit zehn gegen vier Stimmen angenommen hatte, wurde am Donnerstagvormittag im Senat, dem Oberhaus des Parlaments, mit 193 gegen 114 Stimmen bei 38 Enthaltungen gebilligt. Hier hielten sich fast alle Senatoren der rechten Oppositionspartei der Republikaner an die Abmachung, das Projekt der Regierung, die seit der letzten Wahl im Juni 2022 nicht mehr über die Parlamentsmehrheit verfügt, zu unterstützen. Doch das sah Stunden später in der Nationalversammlung ganz anders aus. Hier waren zahlreiche Republikaner nicht bereit, ihre Vorbehalte gegen die Reform zurückzustellen. Trotz massiver Überzeugungsversuche durch Kollegen oder dem Versprechen von Ministern, Projekte in ihrem Wahlkreis großzügig zu fördern, ließen sich nicht genug Republikaner auf die Seite des Regierungslagers ziehen. Das Risiko, bei der Abstimmung knapp zu verlieren und damit die ganze Reform abschreiben zu müssen, wollte Macron nicht eingehen. »Es wäre in der gegenwärtigen Bankenkrise ein gefährliches Zeichen hinsichtlich der politischen und damit auch der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität Frankreichs«, sagte er in der Krisensitzung des Ministerrats. Allerdings stellt bereits der Rückgriff auf den Ausnahmeparagraphen 49.3 eine politische Niederlage dar und kann nichts daran ändern, dass das so mit Gewalt durchs Parlament gepresste Reformgesetz nach wie vor von zwei Dritteln aller Franzosen und mehr als 90 Prozent der Lohnabhängigen abgelehnt wird.

Der Abgeordnete und Nationalsekretär der FKP, Fabien Roussel, sagte unmittelbar nach der Rede der Premierministerin: »Das Parlament wurde bis zuletzt verhöhnt und gedemütigt. Der Griff zum Artikel 49.3 ist eine Schande für die Demokratie.« Indes wollen alle Abgeordneten des linken Bündnisses NUPES, um die Rentenreform noch zu stoppen, am Montag für den Misstrauensantrag stimmen. Das gilt auch für den rechtsextremen Rassemblement National. Entscheidend wird sein, wie viele Republikaner sich dem anschließen und sich damit über die Direktive ihres Fraktionsvorsitzenden hinwegsetzen.

Viele der Franzosen, die seit Monaten gegen das Reformprojekt protestieren, wollen dieses Kräftemessen im Parlament nicht abwarten. Noch während die Regierungschefin in der Nationalversammlung redete, versammelten sich wenige hundert Meter weiter auf dem Concorde-Platz spontan Tausende Demonstranten. Einige warfen Steine auf die Polizisten, die den Weg zum Parlament versperrten, und zündeten Bretter von nahen Baustellen an. Nach Stunden räumte die Polizei den Platz mit Wasserwerfern und Tränengas. Eine gewaltbereite Minderheit wich in Nebenstraßen aus, zog durch die vornehme Geschäftsstraße Saint-Honoré und über die großen Boulevards und zündete Autos und Berge von Müll an, der sich durch einen Streik der Müllmänner angesammelt hatte. Zu ähnlichen Protesten kam es am Abend auch in Marseille, Lyon, Lille, Amiens, Dijon, Nantes und Rennes.

Im Vergleich dazu waren die seit Jahresbeginn durch die Gewerkschaften organisierten Demonstrationen fast durchweg friedlich verlaufen. Darauf verweist auch der Generalsekretär der Gewerkschaft Force ouvrière, Frédéric Souillot, der zum Vorgehen der Regierung sagt: »Wenn es zu einer sozialen Explosion kommt, dann ist daran einzig und allein die Exekutive schuld.« Der Einsatz von Artikel 49.3 sei »zwar legal, aber brutal«. Der Präsident und seine Regierungschefin hätten die Rentenreform von Anfang an selbstherrlich konzipiert und ohne echte Konsultationen mit den Gewerkschaften durchzudrücken versucht. »Die anfänglichen Treffen mit uns waren nicht ehrlich gemeint. Sie haben nie wirklich auf uns gehört und unsere Argumente berücksichtigt, sondern sind einzig und allein nach ihrem Plan vorgegangen.« Damit ließen Macron und Borne den Graben zwischen der Exekutive und der Masse der Franzosen immer tiefer werden. Das Ergebnis sei das gegenwärtige Chaos.

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