Original gefälscht

Wissenschaftler untersuchen Objekte in Berlin und Brandenburg auf ihren authentischen Kern

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Die barocke Kirche, das klassizistische Schloss, die Fabrikantenvilla aus der Gründerzeit – sie gelten als authentisch und repräsentativ. Aber was genau macht Orte authentisch? Dieser Frage geht ein Forschungsverbund nach, dem das Leibnitz-Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner, das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und andere Institutionen angehören. Am Mittwochabend stellt der Forschungsverbund seine Internetseite urban-authenticity.eu in einer Videokonferenz vor. Die Seite ist just zu diesem Termin freigeschaltet und das Ergebnis von zwei bis drei Jahren Arbeit einer Projektgruppe. Auch der Museumsverband Brandenburg hat dabei mitgewirkt.

»Uns interessiert, warum bestimmte Orte in den vergangenen 50 Jahren als authentisch und identitätsstiftend angesehen werden«, erläutert IRS-Mitarbeiter Daniel Hadwiger. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, warum das äußerlich teilweise als Abklatsch des einstigen Stadtschlosses errichtete Berliner Humboldt-Forum »so polarisiert« und warum das Kulturhaus des Kernkraftwerks Rheinsberg vom Erdboden verschwunden ist. 54 Objekte wurden untersucht und sie werden jetzt im Internet mit Fotos, Dokumenten und erläuternden Texten vorgestellt. Etwa die Hälfte der Objekte sind in Berlin oder Brandenburg zu finden – in einzelnen Fällen aber auch nicht mehr, weil sie abgerissen worden sind. Ein Beispiel für ein abgerissenes Kulturhaus präsentiert Hadwiger gleich selbst: Das bereits erwähnte Rheinsberger »Kulturhaus der Arbeiter des Atomkraftwerks« wurde 1959 eröffnet und später zum Erholungsheim umgebaut. Veranstaltungssaal, Milchbar und Bibliothek erfreuten längst nicht nur die Belegschaft des Kernkraftwerks, sondern auch die Bevölkerung von Rheinsberg und die Urlauber, die sich in der Gegend erholten. Sie wurden in der Gaststätte beköstigt. Es wurden in dem Haus Musiktage veranstaltet, wie ein Dokument von 1961 belegt, und es wurde Karneval gefeiert, wie ein Foto aus den 1970er Jahren zeigt. In den 1990er Jahren wurde das als baufällig eingestufte Kulturhaus plattgemacht. Pläne, etwas Neues hinzusetzen, zerschlugen sich. Die Fläche ist bis heute eine Brache geblieben. »Das ist ein emotionales Haus, ein Haus mit Erinnerungen«, schwärmt Hadwiger, so, als wäre es nicht Geschichte.

Es weiß aber auch Tröstliches zu sagen. Wenngleich in der DDR errichtete Kulturhäuser oft geschleift wurden – es gibt noch welche. Etwa in Schwedt. Da, wo 1962 das Schloss verschwand, wurde 1974 der Grundstein für ein Kulturhaus gelegt. Die Errichtung stagnierte, weil die Bauarbeiter zum Palast der Republik nach Berlin abgezogen wurden. Die SED-Kreisleitung setzte sich allerdings über den zeitweise verfügten Baustopp hinweg und ließ weitermachen. Dafür wurde sie gemaßregelt. Doch Schwedt bekam sein modernes Kulturhaus. Es beherbergt heute die Uckermärkischen Bühnen.

Den Palast der Republik gibt es indes nicht mehr. An seiner Stelle entstand das umkämpfte Humboldt-Forum mit Schlossfassade. »Ist das Berliner Schloss authentisch, das neu gebaute?«, fragt Professor Christoph Bernhardt, der den IRS-Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte leitet. Er gibt die Antwort gleich selbst: »Natürlich nicht!« Aber hinsichtlich der Kubatur des Schlosses, die das Humboldt-Forum im Stadtraum ausfüllt, vielleicht ein bisschen dann doch wieder. Darum hat es auch einen Steckbrief bekommen.

Was echt ist und was nur nachgeäfft, wird auch anhand von Vergleichen mit Orten im polnischen Szczecin, im französischen Marseille und im fränkischen Nürnberg deutlich. Ein besonders eindrückliches Beispiel präsentiert Julia Ziegler vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. Die alte Stadtmauer mit Waffenhof in Nürnberg wurde im Zweiten Weltkrieg von Bomben demoliert, der Frauentorturm aber 1953 wieder aufgerichtet. Der ist echt. Direkt daneben gibt es den 1971 aufgebauten Handwerkerhof, eine Touristen-Attraktion mit mittelalterlichem Flair, ein Disneyland für Besucher, denen eine Zeitreise lediglich vorgespielt wird. Zeitweise konnten sie dort mit extra einzutauschenden alten Münzen bezahlen. Zwar sprach sich die für den Handwerkerhof verantwortliche Ausstellungsgesellschaft mit dem Denkmalamt ab, damit alles schön authentisch wirkt – ist es aber nicht. Der Handwerkerhof schaffte es nichtsdestotrotz auf Platz acht der beliebtesten Sehenswürdigkeiten von Nürnberg. Eher unbeliebt ist das in den Jahren 1993 bis 1997 errichtete Potsdamer Wohnviertel Kirchsteighof. Die inzwischen 5000 Bewohner identifizieren sich wenig damit und ziehen im Schnitt nach sieben Jahren wieder fort. Sie beklagen fehlende Cafés und Kneipen, zeitweise habe es nicht einmal einen Supermarkt gegeben, berichtet Sabrina Runge vom Zentrum für Zeithistorische Forschung. Der Platz an der Kirche sollte eigentlich eine einladende Fußgängerzone sein, sei aber meistens von Autos zugeparkt. Dabei schwebte den Architekten gerade nicht eine öde Schlafstadt vor. Sie planten extra keine seelenlos wirkenden Wohnblocks.

Abschreckend wirkte das Märkische Viertel in Berlin. Das war von 1963 bis 1974 gebaut worden. Quartiere für 50 000 Menschen entstanden in Häusern mit bis zu 16 Stockwerken. Das Projekt war sofort umstritten, wurde doch eine Laubenkolonie dafür abgeräumt. Die aus traditionellen Arbeitervierteln verdrängten Menschen zahlten hier mehr Miete als früher, hatten aber das geringste Durchschnittseinkommen von ganz Westberlin. Kinder lungerten wegen einer dramatischen Falschplanung notgedrungen auf der Straße herum. Es fehlte an Betreuung. Auch die Verkehrsanbindung mit Buslinien war mies. Erst 1994 kam ein U-Bahn-Anschluss. Rapper Sido machte das Viertel, in dem er damals noch selbst wohnte, 2004 mit seinem Song »Mein Block« berühmt. Er bediente zwar altbekannte Vorurteile gegen das Ghetto, machte es aber auch anziehend für Gangsta-Rapper, weil er es zur »authentischen Hood« stilisierte, zu einem Ort also, an dem Jugendliche getrost abhängen können. »Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel«, rappte Sido. »Meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block.«

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