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Rassismus im Jugendamt Berlin? Und plötzlich ist das Kind weg

Migrantische, nicht-weiße Mütter beklagen in Berlin vorschnelle Inobhutnahmen durch rassistische Jugendämter und Gerichte

  • Nina Winter
  • Lesedauer: 5 Min.
Juliet Ogbona (re.) kämpft um ihr Kind. Vor zwei Jahren brachte das Jugendamt ihren Sohn ohne ihr Wissen in ein Kinderheim.
Juliet Ogbona (re.) kämpft um ihr Kind. Vor zwei Jahren brachte das Jugendamt ihren Sohn ohne ihr Wissen in ein Kinderheim.

Der Ladenraum in der Choriner Straße in Prenzlauer Berg ist hell erleuchtet. Bei einer Veranstaltung vergangene Woche mit dem Titel »Sie haben einfach mein Kind weggenommen« geht es dort um rassistisches Behördenhandeln bei Inobhutnahmen von Kindern. Denn obwohl das Jugendamt eigentlich nur im schlimmsten Falle Kinder aus ihren Familien holt, berichten von Rassismus betroffene Mütter immer wieder von plötzlichen Inobhutnahmen mit fadenscheinigen Begründungen.

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Der kleine Konferenzraum im Keller füllt sich, alle 30 Stühle sind besetzt. Die Nachrückenden nehmen im hinteren Teil auf der offenen Treppe Platz, zwischen den Reihen spielen Kinder. Niki Drakos, Mitarbeiterin der Berliner Frauenkreise, einer feministisch und intersektional ausgerichteten Initiative zur Beratung von Frauen, moderiert und stellt die vier geladenen Podiumsteilnehmerinnen vor: Rechtsanwältin Asha Hedayati vertritt regelmäßig von Inobhutnahmen betroffene Mütter, Kadiatou Diallo wurde im Rahmen ihrer Arbeit als Leiterin von »Space2grow«, einem Projekt der Frauenkreise von und für geflüchtete und migrierte Frauen, auf das Thema aufmerksam. Lea Ulmer von der Initiative »United Refugee Rights Movement Karlsruhe« begleitet Betroffene, und Juliet Ogbona ist ebenfalls aus der Nähe von Karlsruhe angereist, um von ihrem Kampf gegen die Inobhutnahme ihres Sohnes zu erzählen.

Asha Hedayati gibt zunächst eine juristische Einschätzung zu Inobhutnahmen, die bei Kindeswohlgefährdung angewendet werden, wenn also ein Gericht von »dringender Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen« ausgeht. Der Begriff »Kindeswohl« werde aber nicht definiert, kritisiert sie. Die Auslegung obliegt Sozialarbeiter*innen, den Mitarbeitenden der Familienhilfe oder dem Jugendamt. Als ein »heftiges Machtgefälle« beschreibt Hedayti das Verhältnis zwischen Staat und Elternteil. Ein Machtgefälle, das Raum bietet für rassistische Interpretationen und das Füllen des Kindeswohl-Begriffs mit deutschen oder eurozentristischen Standards, sagt Kadiatou Diallo von »Space2grow«. Eine Sozialarbeiterin aus dem Publikum gibt ein Beispiel: »Schon die Tatsache, alleinerziehend zu sein oder mehr als zwei Kinder zu haben, ist ein Makel für das Jugendamt.«

Den eindrücklichsten Teil der Diskussion machen Erfahrungsberichte aus. Die betroffene Mutter Ogbona, alleinerziehend und nach Deutschland migriert, erzählt auf Englisch ihre Geschichte: Ihr Sohn habe in der Grundschule ein anderes Kind gebissen und sei durch aggressives Verhalten aufgefallen. Daraufhin habe ein engmaschiges Netz aus Sozialarbeit, Familienhilfe und Jugendamt zeitweise mit drei Helfern von morgens halb sieben bis abends um acht den gesamten Alltag der kleinen Familie kontrolliert. Druck, Einschüchterung und Kritik etwa an Essensgewohnheiten und Erziehungsweisen waren dabei allgegenwärtig. Unter dem Vorwand eines Klinikaufenthalts sei ihr Sohn dann vor zwei Jahren gegen ihren Willen in ein Kinderheim gebracht worden. Seitdem versucht Ogbona, ihn zu sich zurückzuholen.

»Das Konzept der Frühen Hilfen ist ein Schönsprech für ›surveillance‹«, bestätigt Laurette Rasch, Dozentin an der Katholischen Hochschule Berlin und aktiv bei Careleavers, Ogbonas Gefühl der Überwachung. Geflüchtete oder migrierte Schwarze Frauen und Frauen of Color erleben nicht nur durch Sozialarbeiter*innen, sondern auch durch Justiz und Behörden Diskriminierung. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Mehr als die Hälfte aller rund 50 000 Inobhutnahmen pro Jahr betreffen Eltern mit Migrationsgeschichte, obwohl sie nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Es scheint, als ob migrierten Menschen häufiger das grundgesetzlich verankerte Recht auf Familie streitig gemacht wird.

Nach gut zwei Stunden wird die Diskussion für das Publikum geöffnet, das sich rege beteiligt. Auch ein Mitarbeiter der Ombudsstelle Jugendhilfe in Berlin (BBO) war bei der Veranstaltung anwesend. Die BBO ist seit 2014 in Berlin tätig. Ziel der BBO Jugendhilfe ist es, strukturelle Machtungleichheiten in der Jugendhilfe durch ombudschaftliche Beratung der Betroffenen auszugleichen und eine tragfähige Einigung in Konfliktfällen zu erzielen. Der Mitarbeiter betont, dass die BBO Jugendhilfe kein Feigenblatt für strukturelle Mängel sei. Die Rolle der BBO werde diesbezüglich kontinuierlich diskutiert und reflektiert. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sei problematisch, dass einige Einzelfall-/ Familienhilfen auf Honorarbasis tätig sind und (noch) keinen sozialpädagogischen Abschluss vorweisen können. Ein konstruktiver Umgang mit Beschwerden trage auch zum Erfolg und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe bei.

Eine weitere Wortmeldung kommt von einer betroffenen Schwarzen Mutter aus Berlin, die berichtet, dass ihre drei Kinder ohne ihr Wissen von der Schule abgeholt und als Pflegekinder in andere Bundesländer vermittelt worden seien. Im Umgang mit dem Jugendamt wurde ihr eine Sprachmittlung versagt, Informationen und Dokumente blieben aus. Auch einer Mutter mit Kopftuch aus den vorderen Sitzreihen wurden drei Kleinkinder entzogen. Sie alle kämpfen um ihre Kinder. »Die Zeit spielt dabei gegen sie«, sagt Anwältin Asha Hedayati, »es ist verstörend, aber Herkunftsfamilien verlieren nach einer bestimmten Zeit Rechte.«

Was bislang fehlt, ist eine Sensibilisierung und Reflexion des Handelns bei Behörden und eine entsprechende Qualifizierung bei sozialen Trägern der Familienhilfe. Sicher ist, dass Inobhutnahmen nur als Ultima Ratio angewendet werden dürfen, also als eine äußerste Schutzmaßnahme bei Gefahr für Leib und Leben, im Falle ausgeprägter Gewaltstrukturen wie Missbrauch, bei dauerhafter Vernachlässigung und bei häuslicher Gewalt. Nach drei Stunden und einer längst nicht zu Ende geführten Sammlung erschreckender Beispiele wird deutlich, wie groß der Missstand bei rassistisch motivierten Inobhutnahmen sein muss.

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