ZDF: Der Greis, der ein Rebell war

Das ZDF wird 60. Eine Erinnerung an die wilden Jahre eines biederen Senders

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.
Verboten in den 70ern: »Schweinchen Dick«
Verboten in den 70ern: »Schweinchen Dick«

Wissen Sie’s auf Anhieb: Welche DDR-Kinderserie hatte in ihrer Titelmelodie folgende Zeilen, »Willste übern Rasen laufen, musst du dir ’n Grundstück kaufen, spielste mal im Treppenhaus, schmeißt dich gleich der Hauswart raus«? Die richtige Antwort: keine. Es war die ZDF-Sendung »Rappelkiste«, die seit 1973 allsonntäglich westdeutsche Kinder antikapitalistisch indoktrinierte.

So hätte es zumindest das »ZDF-Magazin« formuliert. Dessen Leiter und Moderator Gerhard Löwenthal machte sich jeden zweiten Mittwoch daran, sozialistische Umtriebe ausfindig zu machen. Fündig wurde er nicht nur in der DDR, sondern auch bei der braven SPD, die er für kommunistisch unterwandert hielt. Wer Löwenthals Sendung regelmäßig schaute, musste den Eindruck gewinnen, die Revolution stünde unmittelbar bevor. Als sozial-liberales Gegengewicht gab es mittwochs im Wechsel »Kennzeichen D«. Die Entspannungspolitik, die Löwenthal bekämpfte, wurde hier gepriesen.

Das war Pluralismus, der polarisierte und aus heutiger Sicht Überraschendes offenbart: Die behäbige, immer etwas trutschig wirkende Großtante namens ZDF war in ihrer Jugend ein ziemlich krawalliges, widersprüchliches Wesen. In ihr rangen Reaktionäre und Progressive Woche für Woche um die Meinungshoheit.

Und wie progressiv sie sein konnte! Rainer Werner Fassbinders »Händler der vier Jahreszeiten« (1971), »der beste deutsche Film seit dem Krieg« (»Süddeutsche Zeitung«), wurde durch das ZDF überhaupt erst möglich. Für die Reihe »Das kleine Fernspiel« finanzierte der Sender die Werke talentierter Jungregisseure. Auch Rosa von Praunheims »Die Bettwurst« (1971), Jim Jarmuschs »Stranger than Paradise« (1984) und Fatih Akins »Kurz und schmerzlos« (1998) verdanken ihre Entstehung dem ZDF als Produzent.

»Das kleine Fernsehspiel« gibt es immer noch – verbannt in die Geisterstunde von Montagnacht auf Dienstag, wenn garantiert kein Werktätiger zuschaut. Auch das war mal anders. Viele Jahre lief es donnerstagsabends kurz nach zehn. So erreichten anspruchsvolle Filme ein Millionenpublikum. Nie wieder war die Avantgarde näher am Mainstream-Publikum.

Im Sinne des ZDF-Vaters wird dies nicht gewesen sein. Es war der CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer höchstpersönlich, der seit den späten 50ern eine zentralistische Alternative zur ARD schaffen wollte. Diese war für sein Empfinden zu stark von SPD-regierten Bundesländern geprägt – der »Rotfunk« lässt grüßen. Doch wie das so ist mit Kindern: Sie entwickeln ein Eigenleben. Während die Entscheidungsgremien der einzelnen ARD-Anstalten die Machtverhältnisse im jeweiligen Bundesland widerspiegelten (im damals noch roten Hessen war auch der Hessische Rundfunk fest in SPD-Hand, im Bayerischen Rundfunk hatte die CSU das Sagen), musste beim ZDF der Anschein der Ausgewogenheit gewahrt werden – zumindest halbwegs. Der oberste Chef mochte ein CDU-Mann sein, aber in den weitverzweigten Strukturen des Apparats verlor man schon mal den Überblick, wer wo politisch stand.

Dadurch entstanden Freiräume, vor allem in kultureller Hinsicht. Die gesellschaftliche Aufbruchstimmung übertrug sich auf den noch jungen Kanal. Die Zukunft konnte beginnen – weshalb man 1972 gleich mal mit der Ausstrahlung von »Raumschiff Enterprise« begann. Die Sendezeiten überschnitten sich mit denen der ARD-»Sportschau«, was sicherlich den Absatz von Zweitfernsehern ankurbelte. Die Terminkollision mag Absicht gewesen sein; schließlich sollten die Leute abends »Das aktuelle Sportstudio« sehen. Da um 22 Uhr die Bundesligaergebnisse längst bekannt waren, zog man die Sendung als Show auf. Es gab ein Publikum, das freudig klatschte, kurzweilige Gespräche mit Studiogästen und natürlich die Schüsse auf die Torwand (noch nie hat jemand alle sechs versenkt). Der stets perfekt geföhnte Dieter Kürten führte mit einer Lässigkeit und Nonchalance durch die Sendung, wie man sie bis dato von den ziemlich nüchternen und steifen deutschen Sportmoderatoren nicht kannte. Selbst die Spielreportagen waren anders, eher analytisch, bisweilen feuilletonistisch aufgebaut. Auf A folgte nicht immer B; man begann auch schon mal mit Z. Auch in dieser Hinsicht war das ZDF seiner Zeit voraus.

Die Sendeanstalt erinnerte in den 60er und 70er Jahren an eine Versuchsküche, in der sich unterschiedlichste Köche an alle möglichen Rezepte wagen durften. Selbst eine Sendung namens »18, 20 – nur nicht passen«, in der vor laufender Kamera Skat gespielt wurde, fand den Weg ins Programm. Es war für jeden Geschmack und jede Altersgruppe etwas dabei. Die einen erhielten ihren Seniorenteller in Form von »Erkennen Sie die Melodie?« (eine Art Operetten- und Opernquiz) und der Samstagabendshow »Musik ist Trumpf«, die anderen wurden bei der »ZDF-Hitparade« und »Disco« mit aktuellen Liedern abgespeist.

Und allen wurde freitagabends Mord und Totschlag serviert. Entweder real bei der Fahndungssendung »Aktenzeichen XY … ungelöst« oder fiktiv bei der Krimireihe »Der Kommissar«, die nicht nur dank ihrer Schwarzweiß-Ästhetik noch heute fasziniert. Herbert Reinecker, der die Drehbücher zu allen 97 Folgen verfasste, war im Faschismus »Hauptschriftleiter« (also Chefredakteur) der HJ-Zeitschrift »Junge Welt« gewesen. Das muss in späteren Jahren an ihm genagt haben. Denn mit diesen als Krimi getarnten Sozialreportagen leistete er eine Art Sühne. Reihenweise ließ er die alten Autoritäten, deren Weltbild in den Zeiten Hitlers geprägt worden war, scheitern. Die Leiche diente ihm als Anlass, sich die Lebenslügen der nur vordergründig anständigen Bürger vorzuknöpfen. Am Ende waren alle schuldig, selbst die, die keinen Mord begangen hatten – Vergangenheitsbewältigung per Drehbuch.

Nicht minder grausam war – zumindest nach Ansicht mancher Erziehungsberechtigten – »Schweinchen Dick«. In den 70ern, als Comics und Trickfilme noch als »Schund« verschrien waren, traute sich das ZDF, US-amerikanische Zeichentrickserien wie »Der rosarote Panther« und »Tom & Jerry« zu senden. »Schweinchen Dick« wurde übrigens nach Elternprotesten wegen »Gewaltverherrlichung« abgesetzt. Es waren andere Zeiten.

Auch optisch. ZDF-Nachrichtensprecher sahen aus wie Verwaltungsbeamte im mittleren Dienst (einfach mal die Namen »Gerhard Klarner« und »Heinz Wrobel« googeln). Und da man den Zuschauern nicht zutraute, sich eine Sendung unvorbereitet anzuschauen, verrieten Fernsehansagerinnen vorab, wovon das nachfolgende Programm handeln würde. Vielleicht ging es auch einfach nur darum, den Menschen vor den Bildschirmen zu vermitteln, dass sie Besonderes erwartete.

Und in gewisser Weise stimmte es ja auch. Selbst im ZDF-Vorabendprogramm, das heute ein Sammelbecken für billig runtergedrehten Serienschrott und Klatschmagazine ist, fanden sich damals kulturelle Perlen. Kein Geringerer als Hanns Dieter Hüsch sprach »Dick und Doof« und »Väter der Klamotte« ein. In diesen Serien (wie auch in »Western von gestern«) wurden amerikanische Stummfilme, in denen Größen wie Stan Laurel, Oliver Hardy, Harold Lloyd und Buster Keaton mitwirkten, auf 25 Minuten zusammengekürzt. Man mag dies als Frevel betrachten, aber es war ein Frevel auf höchstem Niveau und Hüsch auch ziemlich witzig.

Sogar Shows hatten der Horizonterweiterung zu dienen. Die halbe BRD hing vorm Fernseher, wenn Wim Thoelke in »Der große Preis« Bildungsbürger zu Hochkulturthemen wie »Die Mythologie der alten Griechen« und »Leben und Werk des Komponisten Emmerich Kálmán« befragte. Es fällt schwer, dies heute angesichts von »Big Brother« und »Love Island« zu glauben.

Auch klingt es wie ein Märchen aus 1968 und einer Nacht, dass das brave Kulturmagazin »Aspekte« einst aufrührerisch wirkte. Da wurde nicht nur über umstrittene Themen wie antiautoritäre Erziehung und die sexuelle Revolution berichtet, sondern auch zu Taten aufgerufen. In Zeiten, in denen Stadtsanierung mit der Abrissbirne erfolgte, blies Redaktionsleiter Reinhard Hoffmeister zum Häuserkampf. Dass die von »Aspekte« initiierte Kampagne »Bürger rettet Eure Städte« ein urkonservatives Anliegen – den Denkmalschutz – verfolgte, hielt selbsternannte Konservative nicht davon ab, »Aspekte« des »linken Kulturkampfs« zu bezichtigen.

Aus und vorbei! Die wilden Jahre des ZDF sind lang schon Geschichte. Der Schwung der frühen Jahre ist dahin. Und auch der Größenwahn. In den 60ern und 70ern wollte das ZDF sogar dem Kino Konkurrenz machen. Gemeinsam mit dem französischen Fernsehen produzierte man aufwendig inszenierte sechsstündige Abenteuerfilme, bei denen Koryphäen wie Wolfgang Staudte Regie führten. Diese bildgewaltigen Werke liefen dann als Vierteiler zur Weihnachtszeit. Epen wie der »Der Seewolf« (1971), »Zwei Jahre Ferien« (1974) und »Michael Strogoff« (1976) bewiesen, wozu das ZDF fähig war, wenn es die Stadtgrenzen von Mainz verließ.

Im Advent 1983 lief der letzte dieser Mehrteiler, »Der Mann von Suez«. Am ersten Weihnachtstag lernten die Zuschauer dann »Diese Drombuschs« kennen; bald darauf öffnete »Die Schwarzwaldklinik« ihre Pforten. Damit gelang dem ZDF etwas evolutionsgeschichtlich Einmaliges: der nahtlose Übergang der Pubertät in die Vergreisung. Das aufregende Fernsehen fand fortan auf anderen Kanälen statt. 1993 – das Jahr, in dem »RTL Samstag Nacht« an den Start ging und »Schmidteinander« im Dritten Programm für Furore sorgte – sendete das ZDF die erste von 168 Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen.

Jetzt wird der Sender, der vor seiner Zeit alt wurde, 60. Was wir zum Jubiläum erwarten dürfen? Wetten, dass Harald Schmidt mal wieder im »Traumschiff« mitspielt?!

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