Neue deutsche Streikwelle

In Deutschland gibt es vergleichsweise selten Ausstände – doch plötzlich wird hart und oft gekämpft. Sind neue Zeiten angebrochen?

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 8 Min.
Guten Mutes: Kundgebung der Verkehrsgewerkschaft EVG vor dem Berliner Hauptbahnhof.
Guten Mutes: Kundgebung der Verkehrsgewerkschaft EVG vor dem Berliner Hauptbahnhof.

Kein Zug, kein Flug, vielerorts weder Bus noch Bahn noch Schiff: Mehr als 100.000 gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte legten am Montag bundesweit den Verkehr still. Das erste Mal streikten dafür Mitglieder zweier Gewerkschaften, die in verschiedenen Tarifauseinandersetzungen stecken, gemeinsam und koordiniert: Die in Verdi zusammengeschlossenen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, für die der TVöD (Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes) neu verhandelt wird; und jene der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, die bei der Bahn oder einem von 50 weiteren privaten Schienenunternehmen unter Vertrag stehen und für die ebenfalls die Tarifrunde angelaufen ist.

Der »Mega-Streik« war vorläufiger Höhepunkt eines intensiven Streikfrühjahrs: Bereits seit Wochen rollen Warnstreiks im öffentlichen Dienst durch die Bundesrepublik. Mehr als eine halbe Million Lohnabhängige legten zeitweise die Arbeit nieder, teils – für Warnstreiks – außergewöhnlich lang: Mehrere Tage etwa wurde in Berlin kein Müll mehr abgeholt; einige kommunale Krankenhäuser wurden mehrfach mehrtägig bestreikt. Und es gab neben dem gemeinsamen Großstreik von EVG und Verdi noch ein paar weitere bemerkenswerte Premieren: Am 3. März streikten die Kolleg*innen des öffentlichen Nahverkehrs gemeinsam mit den Jugendlichen von Fridays for Future – für Lohnerhöhungen, aber auch Klimaschutz und eine echte Verkehrswende. Nur wenige Tage später ein weiteres Novum: Am 8. März, dem feministischen Kampftag, rief Verdi gezielt die vorrangig weiblichen Beschäftigten des kommunalen Sozial- und Erziehungsdienstes, vor allem Kita-Erzieherinnen, in den TVöD-Warnstreik.

Auch bei der – inzwischen vorerst befriedeten – Post, der dritten großen Tarifrunde in diesem Frühjahr, war die Beteiligung an den Warnstreiks im Januar und Februar hoch. Die dortige Urabstimmung über einen unbefristeten Erzwingungsstreik ging mit 86 Prozent klar für Streik aus. Das Beispiel Post zeigt allerdings, dass die Streikwelle auch schnell wieder abebben kann – hier verhandelten die Tarifparteien Mitte März nach und wendeten damit einen großen Ausstand in letzter Minute ab. Am Freitag teilte Verdi mit, dass in einer Urabstimmung 61,7 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für das Verhandlungsergebnis votiert haben.

Dennoch: Es wird derzeit ungewohnt viel und energisch gestreikt in der Bundesrepublik. In den Kommentarspalten deutscher Zeitungen wird das mit Verwunderung und spätestens seit Montag auch offener Ablehnung zur Kenntnis genommen. »Falsch, falsch, falsch«, hieß es auf »Zeit Online«. »Geht da jedes Maß verloren?«, fragte der Journalist Nikolaus Blome. Die Bild-Zeitung warnte vor dem »schlimmsten Streik seit 31 Jahren« – 1992 hatte es das letzte Mal einen Vollstreik, also nicht nur Warnstreiks, im öffentlichen Dienst gegeben. Dieser Arbeitskampf dauerte zwölf Tage an und endete mit einem damals in der ÖTV, seinerzeit die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, höchst umstrittenen Kompromiss von 5,4 Prozent Lohnerhöhung – statt der geforderten 9,5 Prozent.

Interessanter als das mediale Geschimpfe oder die erwartbaren Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts durch Arbeitgeberlobbyisten war ein Kommentar des Medienunternehmers Gabor Steingart bei »Focus Online«: Der gemeinsame Verkehrsstreik von Verdi und EVG sei »der Anfang einer neuen Zeit«, schrieb Steingart. Vordergründig gehe es zwar um die Lohnforderungen der beiden Gewerkschaften – 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro mehr im Monat für den öffentlichen Dienst und sogar zwölf Prozent und mindestens 650 Euro mehr im Monat für die Bahn-Beschäftigten, jeweils bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Aber, so Steingart, »in Wahrheit klopft hier der Vorbote einer neuen Zeit an die Tür der Deutschen. (…) Die Angst vor dem Gespenst der Arbeitslosigkeit ist verschwunden. Heute fürchten sich nicht mehr die Arbeitnehmer, sondern die Arbeitgeber – und zwar vor der Leere in Büro, Fabrik oder Abfertigungshalle, ausgelöst durch den chronisch gewordenen Arbeitskräftemangel.« Die Kräfteverhältnisse hätten sich, behauptete er, verkehrt: Das Jahrhundert der Arbeitnehmer habe begonnen. Stimmt das?

Mehr Häuserkämpfe

Ein Blick auf die Zahlen der zurückliegenden Jahre lässt noch keine grundlegende Veränderung in der deutschen Streikkultur erkennen. Darauf weist der Erfurter Soziologe Stefan Schmalz hin. Von einer Zunahme der durch Streik ausgefallenen Arbeitstage könne keine Rede sein, so Schmalz mit Verweis auf die an der Uni Erfurt angesiedelten Streikmonitore. Mit einer Ausnahme: Das Streikjahr 2015, in dem es mehrwöchige Erzwingungsstreiks bei der Post sowie im Sozial- und Erziehungsdienst gab, zudem Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei der Bahn, aber auch längere einzelbetriebliche Streikauseinandersetzungen, etwa an der Berliner Charité.

Letzteres, so Schmalz, ist ein nachgewiesener Trend: Es gebe mehr betriebliche Einzelkonflikte, sogenannte Häuserkämpfe, was mit der sinkenden Tarifbindung zusammenhänge. Viele dieser Häuserkämpfe fänden im Gesundheitswesen oder im Verkehrssektor statt und seien damit öffentlich sichtbar. So auch aktuell: Neben den großen diesjährigen Tarifauseinandersetzungen bei Post, Bahn und im öffentlichen Dienst gibt es etwa seit dieser Woche am Universitätsklinikum Gießen Marburg einen Streik für Entlastung, nach dem Vorbild der Berliner Krankenhausbewegung, die 2021 mehrere Wochen für einen Tarifvertrag Entlastung, also mehr Personal, streikte oder der Krankenhausbewegung NRW, die für dasselbe Ziel 2022 an sechs Unikliniken elf Wochen im Erzwingungsstreik war.

Diese Arbeitskampferfahrungen sind auch bei den Warnstreiks im Rahmen der aktuellen Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst relevant – denn hier stehen die inzwischen kampferprobten Klinikbeschäftigten erneut an vorderster Streikfront. Und: Das Thema Fachkräftemangel hat sich an den Krankenhäusern, da hat der oben zitierte Gabor Steingart einen Punkt getroffen, als wichtige Machtressource und Quelle von Selbstbewusstsein erwiesen. Auch in anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, ebenso in Teilen der Privatwirtschaft, spielt das eine Rolle. In zweierlei Hinsicht: Einerseits ist die Personalnot vielerorts so groß, dass sie – wie an den Kliniken – selbst zum Gegenstand von Arbeitskämpfen wird. Andererseits berechtigen die massiv beeinträchtigten Arbeitsbedingungen in den Augen der Beschäftigten zu hohen Lohnforderungen: als Ausgleich für die durch Personalmangel erzwungenen Mehrfachleistungen und als Anreiz, um überhaupt dringend benötigtes neues Personal zu finden.

Für die derzeitigen großen Tarifauseinandersetzungen ist darüber hinaus aber auch schlicht und ergreifend die Inflation entscheidend: Es gibt bei vielen, für die jetzt die Tarife neu verhandelt werden, einfach keine Reserven mehr. Aus Kreisen der Streikenden hört man immer wieder, dass Beschäftigte gerade der unteren Lohngruppen des öffentlichen Dienstes oder der Bahn Zweitjobs annehmen müssen, um noch über die Runden zu kommen. Die Rede von den »systemrelevanten Berufen« und das folgenlose Klatschen vom Balkon hat hier zu angestauter Wut geführt und gleichzeitig zu der Gewissheit, unverzichtbar zu sein. Dass die Inflation bei den Gewerkschaften auch dort Handlungsdruck erzeugt, wo sie Beschäftigte bisher sträflich vernachlässigt haben, zeigt eine Arbeitsniederlegung, die ebenfalls diese Woche stattfand, aber kaum beachtet wurde: Zum ersten Mal überhaupt rief die IG Metall alle Zeitarbeiter*innen bei der VW-Verleih-Tochter AutoVision zum Warnstreik auf. Gekämpft wurde für einen Inflationsausgleich, Urlaubs- sowie Weihnachtsgeld und dies ironischerweise an eben jenem Tag, an dem bekannt wurde, dass sich die VW-Vorstände die Gehälter erhöhen wollen.

Neben den durch äußere Faktoren wie Inflation oder Personalnot begründeten Ursachen für die neue deutsche Streikwelle gibt es auch spürbare Veränderungen innerhalb der Gewerkschaften. Zum einen gerät derzeit eine Generation in Bewegung, die den Niedergang der 1990er und frühen Nullerjahre, als die Gewerkschaften schon gänzlich abgeschrieben schienen, nicht aktiv miterlebt hat. Sie können daher unvoreingenommener an Arbeitskämpfe gehen als jene, die bittere Niederlagen einstecken mussten. Ein Phänomen, das sich übrigens auch in Großbritannien besichtigen lässt, wo Ausstände in verschiedenen Sektoren zu den größten Streiks seit der Thatcher-Ära führen. Hier hat sich eine junge Generation von Arbeiter*innen auf den Weg gemacht hat, die die Niederschlagung der Gewerkschaften Mitte der 1980er Jahre nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt.

Doch auch die Organisationen selbst, vor allem Verdi, haben sich verändert: Sicher, die deutsche »Sozialpartnerschaft« bleibt das Leitbild der DGB-Gewerkschaften. Und das deutsche Streikrecht schränkt die Möglichkeiten zum Arbeitskampf – etwa im Vergleich zu Frankreich – vielfach ein: Politische Streiks gelten als unmöglich, Beamtenstreiks sind verboten, wogegen die GEW derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgeht; untersagt sind ebenso verbandsfreie Streiks und Streiks außerhalb von Tarifrunden; das Streikrecht der fast zwei Millionen Beschäftigten der Kirchen ist durch deren Sonderarbeitsrecht beschnitten.

All diesen »Abers« zum Trotz: Die Bereitschaft zum Arbeitskampf und dazu, selbst Mittel wie Warnstreiks konfrontativ einzusetzen, ist merklich größer als etwa in den Jahren des gewerkschaftlichen Niedergangs, wobei die Unterschiede zwischen den einzelnen Fachbereichen sicherlich groß sind. In der jetzigen Tarifrunde im öffentlichen Dienst war jedenfalls schon die Forderungsfindung von einem neuen Ton begleitet: Von Beginn an ging es darum, sich auf eine Forderung zu verständigen, für die Kolleg*innen aller Bereiche bereit sind, in den Kampf zu ziehen: So kam die Forderung nach mindestens 500 Euro mehr im Monat zustande.

Kein halbgarer Kompromiss

Ob diese oder zumindest ein deutlich höherer Mindestbetrag als die bislang angebotenen 150 Euro durchgesetzt werden können, wird entscheidend sein: Endet die Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst, wie bei der Post, in einem nur halbgaren Kompromiss, lässt man hier die Muskeln spielen, ohne letztlich in den Erzwingungsstreik zu gehen, dann hat das Signalwirkung für die Tarifrunde bei der Bahn, im Einzelhandel oder beim zweiten Flächentarifvertrag des öffentlichen Dienstes, dem TV L, der im Herbst ausläuft. Dann wird es ein heißer, aber kurzer Streikfrühling 2023 gewesen sein.

Andersherum gilt das allerdings ebenso: Wenn die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einen wirksamen Inflationsausgleich erzwingen, wenn sie dafür sogar – zum ersten Mal seit es den TVöD gibt – nach der nun erst einmal aufgezwungen Schlichtung in einen Vollstreik gehen, dann wird das auch andere Branchen und Beschäftigtengruppen beflügeln. Kommt es so, dann könnte tatsächlich so etwas wie eine neue Zeit anbrechen in der bislang streikarmen Bundesrepublik.

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