Wochenkrippen in der DDR: Babys unter Druck

Eine Ausstellung in Rostock widmet sich dem schwierigen Erbe der DDR-Wochenkrippen

Steffi B., eine Betroffene, porträtiert von Anja Lehmann, »Spurenfotos« der früheren Krippe machte die künstlerische Leiterin der Ausstellung, Sophie Linz. Steffi B. verarbeitete ihre Erfahrungen mit einer Collage, für die sie ein zerrissenes Foto von sich und ihrer Mutter sowie originale DDR-Bettwäsche verwendete.
Steffi B., eine Betroffene, porträtiert von Anja Lehmann, »Spurenfotos« der früheren Krippe machte die künstlerische Leiterin der Ausstellung, Sophie Linz. Steffi B. verarbeitete ihre Erfahrungen mit einer Collage, für die sie ein zerrissenes Foto von sich und ihrer Mutter sowie originale DDR-Bettwäsche verwendete.

Die ersten zwei bis drei Jahre auf der Welt sind für uns Menschen Schwerstarbeit. Wir haben einen wahren Tsunami an Eindrücken und Erfahrungen zu verarbeiten. Und mit großer Anstrengung müssen wir Sprache verstehen und gebrauchen lernen, parallel dazu die Kontrolle über den eigenen Körper gewinnen. An diese Strapazen können sich die meisten von uns später nicht mehr erinnern. Und so haben Erwachsene, die Eltern werden, nur eine blasse Ahnung von den ungeheuren Leistungen, die ihr Nachwuchs gerade vollbringt.

Was uns aus diesen ersten Lebensmonaten und -jahren bleibt, sind gute oder ungute Grundgefühle, eine seelische Verfasstheit. Manche erleben in dieser Zeit schwerste Vernachlässigung oder gar Gewalt durch die Eltern, andere das desorientierende Herumgereichtwerden unter wechselnden Bezugspersonen. Letzteres dürfte die Psyche vieler beeinflusst haben, die in der DDR, oft schon im Alter von weniger als zwei Monaten, in einer Wochenkrippe »abgegeben« wurden. Abgegeben: Das ist auch der Titel einer Ausstellung, die derzeit in der Kunsthalle Rostock gezeigt wird. Im Mittelpunkt stehen hier die Narben auf der Seele, die diese frühen Erlebnisse in Institutionen hinterlassen haben, in denen der Tagesablauf von Montagfrüh bis Samstagmittag streng durchgetaktet war.

Von 1950 bis 1989 waren Schätzungen zufolge insgesamt 200 000 bis 600 000 Menschen zeitweilig in Wochenkrippen untergebracht, was zwei bis sieben Prozent der in 40 Jahren DDR Geborenen entspräche. Das zeigt: Für die Mehrheit der Eltern war diese Betreuungsform nicht die bevorzugte. Und die meisten, die sie nutzten, taten das freiwillig, betont Sophie Linz, Initiatorin und künstlerische Leiterin der Ausstellung, wobei viele aufgrund ihrer Arbeitssituation »keine Wahl« gehabt hätten.

Linz, Jahrgang 1974, war selbst Wochenkrippenkind. Mit dem intersektionalen Projekt in Rostock, das auch ein bereits ausgebuchtes wissenschaftliches Symposium Ende April umfasst, wollte sie Menschen eine Stimme geben, die an diesem frühen Abgegeben-worden-Sein und daraus resultierenden Brüchen insbesondere mit der Mutter bis heute leiden. Und die sich oft nicht ernstgenommen fühlen, gerade in Ostdeutschland. Da erlebe man bis heute viel »Abwehr«, sagt Linz. Viele wüssten nicht einmal, dass es Wochenkrippen gab. Was insofern zu bezweifeln ist, als es seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zahllose Veröffentlichungen und Dokumentationen zum Thema gegeben hat.

Im Vergleich mit vielen dieser Publikationen haben es die Ausstellungsmacherinnen geschafft, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Zehn Betroffene werden in der Kunsthalle vorgestellt: mit großen Porträtfotos, Bildern der Gebäude, in denen sich »ihre« Wochenkrippe befand, jeweils eine Collage, die sie aus persönlichen Erinnerungsstücken und Fotos selbst gestaltet haben – und mit Interviews, in denen sie von lange unterdrückten Gefühlen und ihrem teils schwierigen Verhältnis zu ihren Eltern sprechen. Diese kann man sich über Kopfhörer anhören. Eine von ihnen, Padma E., erzählt, nicht mal die jüngere Schwester, die nicht in einer Wochenkrippe war, würde ihr glauben, wenn sie von ihren Erinnerungen an Verzweiflung und Einsamkeit spreche. Und ihre Mutter, selbst als 1932 geborenes Kriegskind vermutlich traumatisiert und in ihrer Liebesfähigkeit eingeschränkt, habe sie »eh nie gemocht«.

Daneben gibt es zahlreiche Fotos aus dem Alltag in DDR-Krippen, von den imposanten, eigens zum Zweck der Kleinkinderbetreuung im typischen 50er-Jahre-Stil errichteten, großzügig und mit künstlerischem Anspruch gestalteten Gebäuden mit großen Terrassen für das »Freiluftschlafen«. Bilder von Köchinnen in modernen Großküchen, von Frauen, die Babys auf dem Balkon Fläschchen geben, von einer Wäscherin, die in großen Holzbottichen Stoffwindeln einweicht. Von Kindern beim Spielen, Essen, Spazierenfahren oder beim kollektiven Toilettengang, in dem ein bekannter Westpsychologe eine wesentliche Ursache für die seelische Deformation der Ostdeutschen erkannte.

In der gut besuchten Ausstellung sitzen Menschen auf Bänken, die angeregt miteinander sprechen, sich darüber austauschen, wie sehr sie sich durch die Bilder an ihre eigene Kindheit erinnert fühlen, an typische Handtücher oder die dunklen Brillen, die sie während der Behandlung mit »Höhensonne« aufsetzen sollten.

Dass die Frauen – im Beruf gab es faktisch keine Männer –, die in den Krippen arbeiteten, gut ausgebildet waren, dass die gute Betreuung und Versorgung der Kleinen und die hohen hygienischen Standards streng kontrolliert wurden, wird in der Ausstellung anerkannt. Zugleich wird darauf verwiesen, dass es in israelischen Landkommunen, den Kibbuzim, lange Zeit ebenfalls üblich war, Kinder schon kurz nach der Geburt in kollektive Betreuungseinrichtungen zu geben.

Im Rahmen des Begleitprogramms kann ein vor allem in Westeuropa berühmt gewordener Film der tschechoslowakischen Kinderpsychologen Zdeněk Matějček und Marie Damborsky mit dem Titel »Kinder ohne Liebe« von 1963 erstmals nach Jahrzehnten wieder in voller Länge angesehen werden. In der Ausstellung wird ein Ausschnitt der Dokumentation gezeigt, in der die Fachleute viele Entwicklungsprobleme von Kindern auf deren Betreuung in Wochenkrippen zurückführen. Matějček prägte den Begriff des »Deprivationssyndroms« und sprach von einer »Unterernährung« der Kinder mit Gefühlen. In den staatssozialistischen Ländern Osteuropas wollte von all dem nicht so gern etwas wissen. Der Film war, auch in der DDR, unter Verschluss.

Gleichwohl wiesen auch in der DDR Wissenschaftlerinnen auf negative Folgen der Wochenkrippenbetreuung hin, vor allem auf drastisch häufigere Erkrankungen im Vergleich zu nur am Tag oder zu Hause betreuten Mädchen und Jungen. Die Medizinerin Eva Schmidt-Kolmer veröffentlichte schon 1959 Ergebnisse einer Studie, in der sie auf Entwicklungsverzögerungen bei der Mehrheit der Wochenkrippenkinder hinwies.

Reagiert wurde auf solche Befunde allerdings erst spät – anders als in der Tschechoslowakei, wo die Wocheneinrichtungen bald nach der Erstaufführung von Matějčeks Film in Tagesstätten umgewandelt wurden. Dagegen ging die Zahl der in Wochenkrippen betreuten Kinder in der DDR nur ganz langsam zurück. Auf dem Höhepunkt gab es 1966 fast 40 000 Plätze in solchen Institutionen, 1989 immerhin noch 4800.

Dass das Angebot von vielen Eltern genutzt wurde, war bei weitem nicht vorrangig dem Druck auf junge Frauen geschuldet, dem Land als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen. Schließlich waren die Alternativen mit einer Betreuung nur am Tag vielfältig. Aber natürlich gab es Fälle, in denen jungen Frauen und Paaren geraten wurde, sich ganz aufs Studium zu konzentrieren und in dieser Zeit Wocheneinrichtungen zu nutzen.

Und sie waren offenbar ein Weg für alleinerziehende Frauen, mit Kind Karriere zu machen. So arbeitete die Mutter von Katharina Palm als Regisseurin beim Fernsehen der DDR in Berlin-Adlershof. Ihrer Ansicht nach war das dortige Betriebs-Wochenheim, in dem Palm von ihrem sechsten Lebensmonat bis zum sechsten Lebensjahr untergebracht war, ein »kleines Paradies«. Palm hoffte vergeblich darauf, dass die Mutter irgendwann eingeräumt hätte, dass es das eben nicht war. Zugleich reflektiert die Schauspielerin, dass man in Sachen Verantwortung »alles immer den Müttern anlastet«.

Zur Ausstellung gehört auch eine Installation der Künstlerin Karla Sachse, die auch die porträtierten Betroffenen bei ihren künstlerischen Arbeiten betreut hat: Rund um ein Baby-Gitterbett hängen an Fäden Zettel mit in Schönschrift notierten Sentenzen von der Decke. Es sind Erinnerungen der Betroffenen, Selbstverteidigungsworte von Eltern, Schilderungen von Betreuerinnen wie diese: »Ich konnte doch immer nur ein Kind trösten. Die anderen schrien umso mehr.« Die Sätze der früheren Kinder erschüttern: »Nie, nie, nie Zärtlichkeiten« steht da. Oder: »Ich war randvoll mit Traurigkeit.«

Aber auch diese Erfahrung ist Teil der Ausstellung: Heike Heilmann, langjährige Mitarbeiterin der Kunsthalle, war als Baby ebenfalls ein Jahr in einer Wochenkrippe. Der Vater war Seemann, die Mutter arbeitete in drei Schichten auf der Warnow-Werft. Sie habe keine negativen Erinnerungen, sei „wohlbehütet und umsorgt“ aufgewachsen, betont Heilmann. Sie hat die 20 beeindruckenden Gemälde, Zeichungen und Skulpturen von Kindern und Eltern aus dem Sammlungsbestand der Kunsthalle ausgewählt, die ebenfalls Teil der Schau sind.

Übrigens: Davon, dass der Alltag in der Krippe für Kleinkinder harte Arbeit ist, dessen war man sich in der DDR schon bewusst. In einem Quasi-Werbefilm über Krippen etwa aus den 60er Jahren, in Ausschnitten in der Ausstellung zu sehen, sagt die Stimme aus dem Off: »Ein Arbeitstag beginnt auch für die kleinsten Bürger.« Schon Zweijährige, erfährt man hier, würden zu »sinnvollem« Spiel angehalten. Und: »Das Spiel ist eine systematische Vorbereitung auf die Arbeit.« 

Ausstellung »abgegeben. Wochenkrippen in der DDR« in der Kunsthalle Rostock, Di-So 11-18 Uhr sowie auch am Ostermontag; noch bis zum 1. Mai

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