Lasst mich rein, ihr Wunden!

Über den Code des Schmerzes hat Björn Hayer den Essayband »Sinn und Unheil« veröffentlicht. Ein Vorabdruck

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 6 Min.

Ob nun ziehend, pochend, drückend – kaum ein anderes Phänomen unseres physischen Erlebens erweist sich als derart plural wie der Schmerz. Zwar definiert ihn die »International Association for the Study of Pain« als »ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung verbunden ist oder in Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird«. Den subjektiven Erfahrungen wird dieser Versuch einer Erfassung des letzthin Unfassbaren nur begrenzt gerecht. Wohl auch deswegen erscheint der Schmerz gewissermaßen als ein Arkanum – sowohl für uns selbst als auch für dessen intersubjektive Vermittelbarkeit.

Als eines der großen Rätsel der Condition humaine bedurfte er somit seit jeher der Deutung. Vor der Entwicklung eines antiken Wissensverständnisses sahen viele Völker beispielsweise bei körperlichen Leiden Geister und okkulte Mächte am Werk. Erst mit den Schriften Hippokrates’ erschien der Schmerz als physiognomisches Indiz, nämlich für eine Dysbalance der Körpersäfte. Man war – frühmodern – von den Dämonen zur Somatik gelangt. Vollends in der Breite der Erkenntnisbildung durchgesetzt hat sich diese Hermeneutik des Körperlichen schließlich in der Aufklärung. Allen voran René Descartes’ Unterscheidung zwischen der res extensa und der res cogitans schuf eine stärkere Aufmerksamkeit für die rein leiblichen Prozesse. Pathologie und die Sezierung erklärten den Körper zum empirischen Objekt – und damit verbunden den Schmerz zur biologischen Reaktion. Aber war damit der Code hinter dem mysteriösen Leiden wirklich dechiffriert? Keineswegs. Denn auch wer dessen Ursprungsort – im Gehirn – zu bestimmen weiß, hat noch keine Aussage über das Warum getroffen. Dabei wird er zur Obsession, zur Plage, die eine permanente Aufmerksamkeitsmaschinerie in Gang setzt. Bleibt der Schmerz gleich? Verändert er sich? Wo befindet er sich, wenn man ihn temporär nicht spürt? Woher kommt er? Was will und soll er uns sagen? »Der Versuch, das Wesen des Schmerzes zu begreifen, seinen Sinn zu begreifen, ist schon die Antwort auf den Imperativ des Schmerzes«, schreibt der US-Psychologe David Bakan. Gerade die scheinbare Sinnlosigkeit des Schmerzes provoziert die Suche nach seinem Sinn.

Jenseits naturwissenschaftlicher Beweisführung haben unterschiedliche Kulturen daher Mythen gebildet. Die Idee dahinter: Schmerz braucht eine Erzählung. So nahmen sich die Religionen seiner Decodierung an. Am prominentesten sicherlich das Christentum. Ohne Schmerz ließe sich die Passion Jesu nicht verstehen. Sie vermittelt in dessen Qualen der Kreuzigung, die uns selbst erfassen und berühren sollen, den grundsätzlichen Zugang zum anderen Menschen. Gottes Sohn steht nicht nur für den Auserwählten, er steht für das humane Gegenüber schlechthin. Er lehrt uns zum einen das Mit-Leiden mit jedem Menschen, zum anderen schlägt er eine Brücke zu Gott. Dieser wird in seinem Sohn körperlich fassbar, weil sich in ihm der physische Schmerz manifestiert. Letzterer erweist sich im Sinne der christlichen Compassio daher als eine Brücke zwischen dem Menschen und dem Göttlichen. Beiden wohnt der Schmerz als verbindendes Drittes inne. Das daraus hervorgehende Mit- und Einfühlen in das andere oder den anderen ist in nahezu allen Kreuzdarstellungen angelegt und offenbart die christliche Religion als spirituellen Versuch der Bewältigung erlittener Pein, eben vor allem wegen der Anteilnahme am Schrecken des Opfers und Leidenden. Klug weist der Philosoph Max Scheler darauf hin, dass das Mitleid in ethischer Hinsicht viel stärkere Effekte evozieren kann als etwa geteilte Freude. Denn es sei »Ursache von hilfreichem Tun«. Erst das emotionale und mentale Mittragen der Last des anderen motiviert uns dazu und stellt Nähe her. Die Wunde als Signum des Schmerzes äußert sich nicht vornehmlich als hässlicher Ausdruck einer Verletzung, sondern kann in ihrer Sichtbarkeit und gleichermaßen als Metapher für Tor zum Gegenüber verstanden werden. Die Wunde bedeutet Öffnung, schafft Verbundenheit. Wer sie bei jemandem bemerkt, sieht sich idealiter in der Rolle des Helfers oder der Helferin. Wunden evozieren Fürsorge.

Der Schmerz muss demnach nicht in Isolation und Aporie führen. Vielmehr vermittelt uns der vulnerable Körper, dass es ein Außerhalb unseres Selbst gibt. Die christliche Religion hat daraus das Narrativ der Entgrenzung und Transzendierung über das eigene Ego abgeleitet. Anschaulich werden die Vorstellungen in der Martyrienmalerei. Für den Historiografen des Schmerzes David B. Morris besteht daher ein enger Zusammenhang zwischen Schmerz und Vision. Exemplarisch gibt diesen Zusammenhang das Gemälde »Jeanne d’Arcs Tod auf dem Scheiterhaufen« (1843) von Hermann Stilke zu erkennen. Während sich im Hintergrund Adel und Klerus unter einem sichtlich aufziehenden Unwetter in reumütiger oder selbstgenügsamer Gebärde zeigen, firmiert die oft als La Pucelle bezeichnete Visionärin und Kriegsheldin im vorderen Zentrum. Unter ihr lodert der Scheiterhaufen, derweil sich ihre Augen gen Himmel richten. Dieser spezifischen und traditionalisierten Ikonografie des Blicks ist der Gedanke eines transzendierend wirkenden Schmerzes inhärent.(…)

Muss man den Schmerz in seiner Bedeutung somit vor allem als eine Prüfung des Glaubens ansehen? Als notwendigen Zwischenschritt zur Erlösung? Bereitet vor allem er uns für die Hindernisse und Härten der Existenz vor? Zutreffend ist: Wer mit Schmerzen konfrontiert ist, kann daran zugrunde gehen, oder er findet einen Weg, sie nicht triumphieren zu lassen. Mit ihm »fertig zu werden« heißt, an ihm gereift zu sein. Ausgangspunkt dieser existenziellen Probe bildet zunächst eine Entfremdung. Am gravierendsten und häufigsten tritt sie in Erscheinung, wenn sich der Geist wach und dynamisch zeigt, aber der Körper dessen Ambition und Tempo nicht standhalten kann. Der Schmerz lehrt uns ergo die Bedingtheit, die Limitierung allen Daseins. Hat man erfahren, wie er einem die Luft zum Atmen nimmt und den Bewegungsradius verkleinert, vermisst man mehr denn je das bedürfnislose Verweilen, das kindliche Unbeschwertsein, die gedankenfreie Muse, das Gefühl, mit sich selbst im Reinen zu sein. Man könnte daher auch von einem empfindlichen Warnsignal sprechen. Dem Schmerz wohnt nämlich ein Aufforderungspotenzial inne. Der Psychosomatik-Mediziner Boris Wandruszka bezeichnet ihn als »ontologische[n] Provokation«, die versteckte Krankheiten, Stress oder Vitaminmangel indiziert. Dabei zwingt er uns zur genauen Wahrnehmung unseres So-Seins und katapultiert uns auf paradoxe Weise aus dem Inneren unseres Leibes hinaus, um ihn von außen klarer zu sehen. Der Schmerz bestimmt damit letztendlich eine anthropologische Grundkonstante: das Fremdwerden gegenüber uns selbst. Wie vulnerabel wir sind, wie zerbrechlich das ist, was wir gemeinhin als selbstverständlich begreifen – davon erzählt der Schmerz als Teil der Conditio humana. Ex negativo bildet er unser Ich heraus. Aufgrund seines Wirkens erhalten wir erst einen Begriff von der (fehlenden) Übereinstimmung von Innen und Außen. Schmerz ist Identitätsarbeit im besten Sinne und lässt sich als Appell zur Arbeit an der eigenen Biografie verstehen. Vor allem im Nachhinein ergibt er einen Sinn. Erst in der Rekonstruktion unserer Geschichte vernehmen wir, wie er einst entstand und vielleicht geheilt wurde. Im Werk der Performance-Künstlerin Marina Abramović findet sich dafür eine schon allein in der Vorstellung grausame Urszene: Als sie noch ein Kind war, verfing sich ihr Arm in einer rotierenden Waschmaschinentrommel und konnte erst im letzten Moment gerettet werden. Schmerz bildete für die 1946 Geborene somit ein frühes Trauma. Manche kommen über derlei Erlebnisse nie hinweg. Abramović gelang es, die Erfahrung ins Produktive zu wenden, indem sie das Leiden zum Ausgangspunkt ihrer Existenz sowie ihres ästhetischen Wirkens nahm. Körperliches Leiden bedeutet für sie Fühlen und konkreteste Selbsterfahrung.

Björn Hayer: Sinn und Unheil. Zur Ästhetik des Schmerzes. Quintus-Verlag, 80 S., br., 20 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -