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Unruhe in der Industrie

Hohe Energiepreise gefährden Betriebe, Künstliche Intelligenz soll die Fabrikhallen erobern

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Steht Deutschlands exportorientiertes Wirtschaftsmodell vor dem Aus? Viele Manager und Verbandsfunktionäre scheinen dies zu befürchten, seit US-Präsident Joe Biden im August 2022 den »Inflation Reduction Act« unterzeichnete. Mit mehreren hundert Milliarden Dollar will Biden seine heimische Industrie ankurbeln. »Teile des ›Inflation Reduction Act‹ benachteiligen unsere Unternehmen, und das mitten in der Energiekrise«, warnt Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer.

Tatsächlich liefen abertausende günstige Lieferverträge für Gas und Strom zum Jahresende aus. Die kostspieligeren Anschlussangebote sind schwer zu finanzieren, weil auf dem Weltmarkt die Endprodukte nicht entsprechend teurer verkauft werden können. Die Energiepreise, die deutsche Industriekunden zahlen müssen, sind fünf- bis sechsmal so hoch wie die der amerikanischen Konkurrenz.

Das trifft vor allem energieintensive Branchen wie die Chemie hart. Wertschöpfungsketten beginnen zu reißen. Werke für Ammoniak, Adblue, Salzsäure, für Vorprodukte der Pharmaindustrie und Basis-Chemikalien wurden stillgelegt oder die Herstellung gedrosselt, weil solche Produkte billiger auf dem Weltmarkt einzukaufen sind.

Auch der Autobranche droht eine »Deindustrialisierung«, beklagt Oliver Falck, Leiter des Ifo-Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien. So habe die Autoindustrie bereits seit 2013 laut Bundesagentur für Arbeit neun Prozent der Fertigungsberufe eingebüßt. In Zukunft sind mehr als 400 000 Beschäftigte unmittelbar von der Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren betroffen – unter anderem, weil Elektromotoren in der Herstellung weit weniger komplex sind als Verbrenner. Noch produzieren die Autohersteller gleichzeitig Fahrzeuge mit beiden Antriebsarten. »Mit dem Abbau dieser Doppelstrukturen wird sich der Beschäftigungsabbau in der Fertigung in den kommenden Jahren weiter beschleunigen«, befürchtet Falck.

Auch im Außenhandel droht Ärger. Die Beziehungen zu China und den USA in einem veränderten geopolitischen Umfeld bestimmen die künftige Wettbewerbsposition der deutschen Autoindustrie mit – und damit auch die Produktionsvolumina, ist Falck überzeugt. Bereits heute fertigen deutsche Autobauer in China deutlich mehr Fahrzeuge als in Deutschland.

Ungemach droht noch von einer weiteren Seite. Die schwierige Konjunkturlage und die hohen Energiepreise werden sich nach Einschätzung deutscher Banken spürbar auf die Kreditvergabe auswirken und zudem zu steigenden Kosten für Kreditnehmer führen. So bezeichnen 59 Prozent der 120 für die »EY Kreditmarktstudie« befragten Bankmanager die Wirtschaftslage in Deutschland als schlecht – nur vier Prozent als gut oder sehr gut. Und 86 Prozent halten Kreditausfälle wegen der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingung für wahrscheinlich.

Ein gänzlich anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man auf die Aussteller der weltgrößten Industriemesse schaut, die diesen Montag in Hannover ihre Tore öffnet. Firmen und Forscher aus Deutschland stellen dort beispielsweise Lösungen für die Elektrifizierung mobiler Maschinen vor, wie sie in der Landwirtschaft oder im Hochbau eingesetzt werden. Andere zeigen, wie nachhaltiges Batterie-Recycling automatisiert werden kann. Analyse-Systeme spüren Schwachstellen in Künstlicher Intelligenz (KI) auf, etwa im seit kurzem weltberühmten textbasierten Dialogsystem ChatGPT.

Real wird auch die digitale, dreidimensionale Parallelwelt im »Metaverse«: Erste Industrieunternehmen testen echtes Arbeiten in digitaler Umgebung. Handfeste Roboter proben derweil die Fabrik der Zukunft: Die »SWAP«-Produktionsarchitektur soll routinemäßig große Stückzahlen in bester Qualität, aber auch schnell individualisierte Einzelprodukte liefern. Und dies energieeffizient und umweltverträglich.

Beispiele nur, aber typische. Zwar gibt es kein einziges deutsches Unternehmen, das wie Amazon, Google oder Uber in der Weltliga der »Verbraucherdigitalisierung« mitspielt, so Hermann Simon, Professor für Betriebswirtschaftslehre. So komme die jüngste Sensation in der KI, ChatGPT, bezeichnenderweise ebenfalls nicht aus Deutschland. Für die Entwicklung solcher »High-Tech« – hohe Berge, die weltweit jeder sieht und jeder kennt – ist auf dem kleinen deutschen Markt vor allem die Nachfrage zu gering. Dennoch ist Deutschland kein Innovationsversager, »sondern ein sehr erfolgreicher Innovationsgewinner«.

Hier kommt neben Auto- und Chemiekonzernen der viel beschworene Mittelstand ins Spiel. Dessen Hidden Champions dominieren viele industrielle Anwendungen. Simon spricht von »Deep-Tech«. Als Beispiel nennt er den Technologieriesen Apple. Die Zahl der in den Tiefen des industriellen Prozesses verborgenen Zulieferer aus Deutschland betrage 767. Darunter die Software LSTM, die hinter dem Siri-System von Apple steht und auf mehr als drei Milliarden Smartphones installiert ist.

Energiepreise, mangelhafte Digitalisierung und ausufernde Bürokratie erschweren in Deutschland zweifellos Unternehmen das Geschäft. Deswegen werden die meisten Firmen aber nicht sobald dem Lockruf aus den USA folgen. Für Innovationen und Investitionen sind der Zugriff auf knappe Fachkräfte, praxisorientierte Ingenieure und traditionsreiche Industriecluster entscheidend. Aber selbst für Deep-Tech und Champions gibt es keine Ewigkeitsgarantien, wie das unrühmliche Ende der deutschen Industrielegende AEG belegt.

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