»Wir brauchen uns alle gegenseitig«

Mo und Kirsten über zehn Jahre Netzwerk Care Revolution und die Frage, warum Sorge im Zentrum politischer Kämpfe stehen muss

  • Interview: Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 7 Min.
Menschen brauchen Wohlbefinden und Sicherheit. Doch die Tätigkeiten, die dafür sorgen, sind gesellschaftlich unterbewertet. Netzwerke wie Care Revolution wollen das ändern.
Menschen brauchen Wohlbefinden und Sicherheit. Doch die Tätigkeiten, die dafür sorgen, sind gesellschaftlich unterbewertet. Netzwerke wie Care Revolution wollen das ändern.

Ihr Netzwerk nennt sich Care Revolution. Wie würde eine Revolution in der Sorgearbeit im privaten wie im professionellen Bereich aussehen? Was wollen Sie konkret erreichen?

Kirsten: Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass Care-Arbeit häufig unbezahlt oder unter schlechten Bedingungen stattfindet. Wir wollen, dass sie aufgewertet wird, dass keine Profite im Gesundheitsbereich gemacht und die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Wir fordern eine generelle Verkürzung der Erwerbsarbeit, damit Leute Zeit haben, Care-Arbeit zu leisten. Die öffentlichen Strukturen müssen ausgebaut werden, damit der Zugang für alle garantiert wird. Und es braucht eine soziale Absicherung. Care-Arbeit ist momentan ein Armutsrisiko, weil man viel weniger verdient oder weil man keine Rentenansprüche erwirbt.

Mo: Es geht uns um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Sorge soll mehr ins Zentrum gerückt werden. Wir brauchen uns ja alle gegenseitig, das ist unsere Lebensgrundlage. Als Babys mussten wir umsorgt werden, alte Menschen brauchen Versorgung. Manche haben eine chronische Krankheit oder sind aufgrund einer Behinderung stärker auf Unterstützung angewiesen. Es ist wichtig, dass wir das als kollektive Aufgabe begreifen. Darauf müssen wir alles ausrichten, weil es das ist, was Wohlbefinden schafft und wodurch Menschen sich abgesichert fühlen. Dafür braucht es den Aufbau von nachbarschaftlichen Sorgenetzen und Zentren, die die Care-Arbeit aus der Vereinzelung herausholen und in die Gemeinschaft bringen. Und Care-Arbeit hat eine globale Dimension.

Interview


Mo (links) und Kirsten (rechts) sind seit der Corona-Pandemie im Care-Revolution-Netzwerk aktiv, ein Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind. Am 18. und 19. Oktober feiert das Netzwerk sein zehnjähriges Bestehen mit einer Konferenz in Leipzig, zu der über 100 Gäste erwartet werden.

Wie sieht die aus?

Mo: Die 24-Stunden-Betreuung ist ein Beispiel. Die Betreuerinnen kommen häufig aus Osteuropa, und auch aus anderen Ländern werden Menschen, meist Frauen, angeworben, um hier in Deutschland im Care-Sektor zu arbeiten. In Anbetracht des Klimawandels werden wir mehr Katastrophen erleben, auch dafür brauchen wir eine feministische, intersektionale Perspektive.

Gelingt es Ihnen, den Anspruch umzusetzen?

Kirsten: Der Anspruch ist auf jeden Fall da und von der Analyse her sind wir uns alle einig, dass es nicht nur um Geschlecht geht, sondern auch um andere Kategorien. Aber trotzdem herrscht eine ziemliche Leerstelle, also wie stellt man unterschiedliche Perspektiven mehr in den Vordergrund? Wir sind da in Ansätzen vernetzt, aber das reicht noch nicht.

Mo: Ja, und ich würde sagen, Care ist so ein zentrales Thema in unserem Alltag. Es ist eigentlich ein total gutes Anknüpfungsthema, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Da müssen wir schauen, welche Perspektiven fehlen und nicht im Netzwerk vertreten sind.

Wie sehen Ihre strategischen Ansätze aus?

Kirsten: Gerade steht eine neue Kampagne »Shoppingmalls zu Sorgezentren« an. Ziel ist es, Sorgezentren in leerstehenden Kaufhäusern aufzubauen. Wir wollen nicht, dass da Eigentumswohnungen oder Büroräume entstehen. Stattdessen soll es verschiedene Angebote geben, etwa von gemeinwohlorientierten Trägern, aber auch selbstorganisierte Kitas, ambulante Pflege- und Beratungsangebote. In Berlin hat die Kampagne schon konkrete Formen angenommen. Da gehen Leute durch die Nachbarschaft von Haustür zu Haustür und erzählen den Bewohner*innen von dem Ansatz und fragen sie, was sie für Angebote brauchen. Dabei geht es auch darum, in Kontakt zu kommen und das Thema präsenter zu machen. Da arbeiten wir gerade an einer überregionalen Vernetzung, die sich an der Idee der sorgenden Stadt orientiert und die auch in anderen Ländern stark diskutiert wird, in Spanien und Lateinamerika. Es stecken Ansätze für eine feministische Stadtpolitik drin und die Frage, was wichtige Wege für Sorgebeziehungen in der Stadt sind und wie man Angebote von unten schaffen kann.

Mo: Wenn wir von Gesundheitsversorgung sprechen, vom Zugang zu Gesundheit, zu Wohnen und so weiter, dann sind davon insbesondere Marginalisierte betroffen. Das stärker zu thematisieren und zu schauen, wie wir solidarische Wege finden können, ist wichtig. Es muss darum gehen, zu zeigen, dass wir hier alle gut leben und unsere Bedürfnisse erfüllt werden können. Damit könnten wir wieder mehr Menschen überzeugen und begeistern.

Kirsten: Es gab so viele Privatisierungen. Die müssen wir wieder zurückdrängen. Wie wir wohnen, hat großen Einfluss darauf, wie wir Care-Arbeit organisieren können, aber Wohnraum ist wahnsinnig teuer geworden. Umso wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die Sorgearbeit einen zentralen Stellenwert in der Analyse und in der Gesellschaft bekommt. Dafür wünsche ich mir mehr Solidarität und dass wir Ängsten damit begegnen, dass Leute besser abgesichert werden. Es ist ja so, dass mehr Investitionen in die öffentliche Infrastruktur dazu beitragen, dass weniger rechte Parteien gewählt werden. Und es braucht wohnraumnahe Angebote in Kiezen und Dörfern, die soziale Treffpunkte bilden, die niedrigschwellige Beratungsangebote zur Verfügung stellen oder Pflegedienste, die die Bedarfe vor Ort abdecken. Und in denen es Raum für Selbstorganisation gibt.

Zehn Jahre gibt es das Netzwerk jetzt schon; viele linke Initiativen schaffen es nicht, ähnlich lange am Ball zu bleiben. Was machen Sie anders?

Kirsten: Wir sind eben nicht nur eine kleine Gruppe von acht Leuten, sondern es gibt viele, die sich damit beruflich beschäftigen oder Erfahrungen einbringen. Und dann gab es immer Bezugspunkte wie das fünfjährige Jubiläum, die Kampagne »Platz für Sorge« und jetzt das zehnjährige Bestehen, wo wir zusammenkommen. Dass Leute kontinuierlich dran geblieben sind, hilft sehr: Es sind Aktive im Netzwerk, die schon bei der Gründung dabei waren. Die können Wissen weitergeben und es gibt viele persönliche Verbindungen.

Mo: Ich glaube, das ist eine Stärke und eine Herausforderung zugleich. Es ist total gut, dass es Leute gibt, die seit zehn Jahren dabei sind. Gleichzeitig kann es für Neue herausfordernd sein, einen eigenen Platz zu finden, neue Sachen anzuregen. Das Netzwerk ist auf eine Weise schon auch sehr lose, sodass es nicht so einfach ist, gemeinsam was auszuhandeln und zu sagen: Gut, wir schreiben jetzt noch mal zehn Punkte fest, die uns wichtig sind.

Kirsten: Das ist vielleicht auch wieder eine Stärke und Schwäche. Wir haben keine einheitliche Strategie, bei der man nur das eine Thema hat. Unsere Arbeit ist ja eher wie ein Puzzle. Da ist einmal die übergeordnete Klammer und dann gibt es verschiedene Gruppen, die in diesem Netzwerk organisiert sind.

Mo: Dadurch gibt es viele Themen, die da drunter passen. Wenn dann aber alle mit ihren Projekten ankommen und man es nicht hinbekommt, noch mal Kräfte zu bündeln, ist es schwierig. Es ist schon unser Anliegen, am Jubiläumswochenende zu schauen, worauf wir uns im Netzwerk konzentrieren wollen.

Was schätzen Sie besonders an der Art der Organisierung in diesem Netzwerk?

Mo: Für mich ist der persönliche Austausch in der Gruppe wichtig, die Frage, wie es uns geht und wie wir das gesellschaftlich einordnen, wenn wir gestresst sind. Mir hilft es, zu merken, wir haben da alle eine gemeinsame Perspektive drauf. Darüber zu sprechen, stärkt unsere Beziehungen. Das macht einen großen Teil davon aus, motiviert zu bleiben. Ich kenne es aber auch gar nicht anders und hatte Glück mit den Gruppen, in denen ich vorher war.

Kirsten: Man spricht darüber, was gerade an Belastung da ist, etwa durch die Pflege der Eltern oder so. Das finde ich schon besonders und schafft auch eine Atmosphäre, die nicht einen solchen Leistungsdruck aufbaut.

Spielt Solidarität im Alltag dabei eine Rolle?

Kirsten: Wahrscheinlich nicht, wie man sich das vorstellt, wie für jemanden einkaufen gehen. Aber ich erlebe es schon so, dass nach Unterstützung gesucht wird, wenn jemand Hilfe braucht. Oder mir wird signalisiert, wir sind emotional für dich da. Und das kommt in dieser Gesellschaft oft zu kurz, weil Leute keine Zeit haben. Ganz konkret äußert sich das in der Organisation der Jubiläumskonferenz. Wir treffen uns immer wieder, schätzen ein, wie es uns geht. Wir kriegen es auch hin, gemeinsam zu schauen, wie wir Probleme lösen können, wenn wir überlastet sind.

Worauf wollen Sie bei der Konferenz besonders anstoßen?

Kirsten: Ein Erfolg ist, dass der Begriff Care Revolution präsenter ist als noch vor zehn Jahren. Wir haben es geschafft, das Thema innerhalb verschiedener Bewegungen anzusprechen und zu setzen. Vor allem in der progressiven Linken können inzwischen viele damit etwas anfangen oder haben zumindest schon mal davon gehört. Das Thema Sorgearbeit ist generell in der Gesellschaft bekannter geworden, natürlich nicht nur durch uns, auch die Pandemie hat da eine große Rolle gespielt.

Mo: Und es gab in den letzten Jahren wieder größere Demos zum 8. März, bei denen feministische Bewegungen und Gewerkschaften vermehrt zusammengearbeitet haben. Da kam auch verstärkt die Forderung nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeit auf, die wir unterstützen.

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