Lange lebe die Krise!

Zum 100. Geburtstag des Historikers: Warum ist Reinhart Koselleck bei Konservativen so beliebt?

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.

Normalerweise altern Doktorarbeiten nicht gut. Kaum ist das Rigorosum absolviert und die Arbeit für den Druck beziehungsweise die elektronische Publikation freigegeben, erscheinen schon die ersten Gegenthesen, die das eifrig verfolgte Forschungsprojekt durch eine noch innovativere Perspektive überbieten, argumentative Schwächen nachweisen oder neues Material zum strittigen Thema aus dem akademischen Zauberhut ziehen. Folglich enden die meisten Dissertationsschriften als Bibliotheksleichen.

Jene Studie dagegen, die 1953 ein blitzgescheiter Geschichts- und Philosophiestudent aus Sachsen an der Universität Heidelberg vorlegte, scheint immer noch vom Jugendbonus eines unangepassten Nachwuchswissenschaftlertums zu zehren. Wird darin doch die gesamte Neuzeit als »Zustand einer permanenten Krise« definiert. Zweifellos trifft das den Nerv unserer Jetztzeit, die eine ungeahnte Verdichtung globaler Notlagen erlebt. Auf den Syrienkrieg folgte die Pandemie, dann kam der Ukraine-Überfall plus Energiekrise. Und über allem schwebt die Metabedrohung der fortschreitenden Erderhitzung. Reinhart Koselleck, der Verfasser der relevant gebliebenen Studie, wurde am Sonntag vor 100 Jahren in Görlitz als Sohn eines Lehrers geboren.

Dass der 2006 verstorbene Historiker besonders in rechten und rechtsliberalen Blättern präsent ist, überrascht nicht. Es sind nämlich vor allem gesellschaftlich fortschrittliche Kräfte, denen er eine chronische Disposition zu Nörgelei und Alarmismus unterstellte. Den Atem habe es ihm verschlagen, gesteht etwa Hans Ulrich Gumbrecht in der »Neuen Zürcher Zeitung«, wie perfekt sich Kosellecks Ausführungen auf die gegenwärtigen »Moral-Töne politischer Korrektheit« beziehen ließen. Tatsächlich scheint »Kritik und Krise«, so der Titel von Kosellecks Dissertation, geeignet, entsprechende Kreise mit diskursiver Munition zu versorgen. Munition für die auf allen Kanälen geführten Kreuzzüge gegen »linksgrünen Siff«, »Gendergaga« und »Klimaterrorismus«.

Worauf zielt nun Koselleks akademisches Gesellenstück ab, dass man ihn postum für solche Debatten rekrutiert? Die Antwort: Koselleck wirft der europäischen Aufklärung und dem aus ihr hervorgegangenen Bildungsbürgertum nichts Geringeres vor als Heuchelei. Getrieben waren sie von eigenen Standesinteressen, nicht von philosophischen Idealen. In einer Art intellektueller Arroganz, so Koselleck, reklamierte die aufstrebende Denker-Elite für sich selbst einen »das Vorrecht der Wahrheit garantierenden Anspruch«. Der Wissenschaftler als Besserwisser. Damit greift der Autor von »Kritik und Krise« nicht zuletzt die eigene Klasse, die Intellektuellen, an. Und vielleicht blieb ihm deswegen die Höchstnote »Summa cum laude« verwehrt.

Ob Vorkämpfer der Toleranz wie Lessing oder Gleichheitsträumer wie Rousseau – laut Koselleck sind die aufgeklärten Zirkel des 18. Jahrhunderts in ihren Attacken gegen den absolutistischen Staat übers Ziel hinausgeschossen und haben über die eigene Epoche hinaus ein Misstrauen gegen staatliche Institutionen zurückgelassen. Aus dem Befreiungsschlag der Französischen Revolution resultiere eine bis in die Gegenwart andauernde Unruhe. Demgegenüber kommt der weggefegte Absolutismus irritierend positiv weg. Immerhin habe dessen strenge Hand das blutige Tohuwabohu der Religionskriege befriedet.

Diderot, Voltaire und Co jedoch hätten sich in ihren Kampagnen gegen das monarchische Ancien Régime eine politisch-utopische Privatethik gezimmert. Diese sei aber von den Realitäten abgekoppelt, weil sie sich nicht im handfesten Tagesgeschäft behaupten musste. Theoretisches Engagement ja, praktische Verantwortung nein. Ein argumentatives Muster, das vielen bekannt vorkommen wird. Es erinnert an Friedrich Merz und andere selbst ernannte Wirtschaftsexperten, die im Namen des Pragmatismus jede Mahnung zu mehr Klimaschutz als modische Wokeness süffisant weglächeln.

Erwartungsgemäß war Koselleck in den wilden Jahren der westdeutschen Studentenbewegung kein wohlgelittener Hochschullehrer. Nicht zuletzt die persönliche Bekanntschaft mit dem NS-Juristen Carl Schmitt (der Briefwechsel der beiden liegt mittlerweile in Buchform vor) galt als Indiz für einen antidemokratischen Bodensatz. Dass Koselleck auf vermintem Terrain wandelte, erkannte schon der junge Jürgen Habermas, der die bei Suhrkamp erschienene Dissertation rezensiert hat.

Im Kern sind Krisen, wie wir sie heute verstehen, für Koselleck eine Erfindung jüngeren Datums. Ursprünglich entstammt der Begriff der Medizin und bezeichnet die kritische Phase einer Infektionskrankheit. Erst die geistigen Eliten des 18. Jahrhunderts hätten die Praxis entwickelt, auf politische oder ökonomische Erschütterungen mit einer hypermoralistischen Kritik an der bestehenden Ordnung zu reagieren – also die Systemfrage zu stellen. Die sich ausdifferenzierende Medienlandschaft des Vernunftzeitalters bot den Rahmen, »Krisen« medial herbeizureden. »Die Kritik übersteigt bei weitem ihren Anlass, sie wird zum Motor der Selbstgerechtigkeit. Sie produziert ihre eigene Verblendung.« Sätze, die durchaus nach Axel-Springer-Schreibschule klingen.

Aber mal langsam. Ein Blick auf den späteren Lebens- und Forschungsweg des Gelehrten verbietet es, ihn vorschnell für rückwärtsgewandte Ideologien zu vereinnahmen. Nach dem Heidelberger Abschluss wechselte Koselleck in den Norden. Zunächst ins sozialdemokratische Reform-Milieu der Bochumer Ruhr Universität, später folgte er einem Ruf an die progressiv-unkonventionell ausgerichtete Universität Bielefeld. Als Autor setzte Koselleck mit dem Buch »Preußen zwischen Reform und Revolution« neue Maßstäbe der Sozialgeschichte. Seiner Mitherausgeberschaft verdankt die Zunft das monumentale Nachschlagewerk der »Geschichtlichen Grundbegriffe«, gleichzeitig erschloss er den Aspekt der Zeitreflexion als Forschungsinhalt seines Fachs. Zuletzt entlarvte der ehemalige Wehrmachtssoldat in einem großen bildpolitischen Projekt das perfide Pathos deutscher Kriegerdenkmäler.

Am Ende bietet aber auch die Doktorarbeit aus Heidelberg weniger Schützenhilfe für die kulturkonservative Gemeinde, als mancher glaubt. Denn aktuell finden die von Koselleck gesehenen Mechanismen des Weltanschauungsterrors ihre typischen Anwender nicht links, sondern rechts der Mitte. Als Extrembeispiel einer von der eigenen Gesinnung berauschten Staatsfeindlichkeit nennt »Kritik und Krise« das Freimaurertum. Durch den Geheimbund eskaliere die angeblich vernunftgesteuerte Staatsphilosophie der Aufklärung zu einer diffusen Verschwörungsreligion, die aus der Anonymität heraus agiert. Eine Menge verbindet die männerbündischen Logen und ihre Kerzenschein-Rituale mit den Umsturzfantasten des 21. Jahrhunderts.

Auch identitäre Grüppchen und Reichsbürger-Banden verkriechen sich. Bevorzugt in den sozialen Netzwerken, wo man so unerkannt bleibt wie in den Gewölben der Freimaurer. Von Youtube über Telegram bis Twitter verbreiten braune Bots diffuse Ängste vor Coronadiktatur, Ökostalinismus oder Bevölkerungsaustausch. Fluchtpunkt all dieser Strategien ist genau das, was Koselleck hellsichtig beschrieb – die diskursive Erzeugung von Krisen. Deutschland soll glauben, dass es ihm schlecht geht. Denn das, so hat ein früherer AfD-Sprecher einmal offen zugegeben, sei gut für Rechtspopulisten.

Reinhart Koselleck: Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Suhrkamp, 248 S., br., 17 €.

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