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Zehn Jahre nach Rana Plaza: Die Standards haben sich nicht erhöht
Gisela Burckhardt vom Verein Femnet über den Einsturz des Fabrikkomplexes und die Folgen
Am 24. April vor zehn Jahren stürzte in Bangladesch der Fabrikkomplex Rana Plaza ein. Über 1000 Arbeiter*innen starben, 2500 wurden verletzt. Erinnern Sie sich noch an den Tag?
Dr. Gisela Burckhardt ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende von Femnet e.V. Seit 2015 ist sie gewählte Vertreterin der Zivilgesellschaft im Bündnis für nachhaltige Textilien.
Sicher erinnere ich mich, es war ein furchtbarer Schock. Wir haben damals sofort versucht, mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu kommen, das war nicht so einfach wie heute. Ich selbst bin nach dem Unglück dorthin gefahren und habe verletzte Arbeiter*innen im Krankenhaus besucht und mit Hinterbliebenen gesprochen. Nachdem die ganzen Verwundeten und Toten geborgen waren, haben unsere Partnerorganisationen, zu denen wir als Mitglied der Clean Clothes Campaign enge Kontakte pflegen, vor Ort nach Labeln und Etiketten gesucht. Wir wollten wissen, wer in der Fabrik produziert hat, wer verantwortlich ist.
Die Katastrophe hat die Arbeitsbedingungen in der Textilbranche weltweit in die Schlagzeilen gebracht. International wurde das Brandschutzabkommen Accord verabschiedet. In Deutschland rief der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller das Textilbündnis ins Leben. Wie schätzen Sie diese Initiativen heute ein?
Das Brandschutzabkommen Accord war auf jeden Fall ein wichtiger Fortschritt, der leider auch erst durch den öffentlichen Druck nach dem Unglück möglich geworden ist. Rund 220 vor allem europäische Unternehmen haben es zusammen mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ausgehandelt, um verpflichtende Standards für mehr Arbeitssicherheit und Gesundheit durchzusetzen. Inzwischen liegt die Zuständigkeit bei der Regierung in Bangladesch. Gleichzeitig wurde das Abkommen international ausgeweitet, so wurde es auch in Pakistan unterzeichnet. Ebenfalls als Reaktion wurde in Deutschland das Textilbündnis aus der Taufe gehoben. Das war immerhin ein erster Schritt, Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bringen.
Und heute?
Beim Textilbündnis bin ich inzwischen ziemlich ernüchtert. Wir hatten große Hoffnung auf den Dialog mit den Unternehmen gesetzt. Bei einigen hat sich das Bewusstsein zwar geändert, dennoch hat sich vor Ort bis heute nichts verbessert. Wir überlegen immer wieder, ob es noch Sinn macht, im Textilbündnis zu bleiben. Klar ist, wir brauchen auf jeden Fall gesetzliche Regelungen. Ich finde, diese ganze Freiwilligkeit ändert kaum etwas. Insgesamt stellen wir fest: Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht – im Gegenteil. Die Löhne wurden in Bangladesch seit fünf Jahren nicht heraufgesetzt trotz gravierender Inflation. Frauendiskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz sind weiter vorhanden. In den Corona-Jahren sind massenhaft Einkommen weggebrochen, weil die Näher*innen keine Löhne bekamen, als die Fabriken geschlossen hatten. Nur sehr wenige waren bereit, die gesetzlich vorgeschriebenen Entschädigungszahlungen auszuzahlen.
Minister Müller hat dann den Grünen Knopf gestartet. Das ist ein staatliches Textilsiegel, das 26 soziale und ökologische Produktkriterien und 20 Unternehmenskriterien umfasst…
Ich denke, der Grüne Knopf ist auch entstanden, weil das Textilbündnis aus Sicht von Gerd Müller nicht schnell genug Ergebnisse geliefert hat, die Aushandlungsprozesse waren doch sehr zäh. Es war zudem für Verbraucher*innen kaum sichtbar und hatte insgesamt wenig Auswirkungen. Er hat wohl auch deshalb das Siegel zusätzlich ins Leben gerufen.
Welche anderen Ansätze beobachten Sie?
Aktuell wird das Thema Recycling heftig diskutiert in der Branche. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um Arbeitsbedingungen, sondern um Umweltverschmutzung und Klimawandel. Durch Wiederverwertung will man etwa den CO2-Ausstoß reduzieren. Aber das ist zum großen Teil Augenwischerei. Bei der Baumwolle etwa ist es gar nicht möglich, 100 Prozent zu recyceln. Bei den Chemiefasern wird oft nicht Kleidung recycelt, sondern anderes Plastik wie PET Flaschen. Das macht überhaupt keinen Sinn, denn es reduziert nicht die Menge an Kleidung.
Inzwischen gibt es verschiedene Label und Zertifikate, die faire Kleidung vertreiben oder zertifizieren. Sehen Sie da gute Ansätze?
Dieser ganze Bereich ist sehr problematisch. Sicher gibt es gute Ansätze wie beim Grünen Knopf oder dem Fair Trade Siegel für den Baumwollanbau. Aber auch letzteres zahlt ja keine existenzsichernden Löhne, sondern einen etwas höheren Preis für die Baumwolle. Der Rest der Lieferkette wird damit noch nicht abgedeckt. Gut ist beim Grünen Knopf, dass die Unternehmen geprüft werden und nicht nur das Produkt. Aber mit existenzsichernden Löhnen hat das alles nichts zu tun. Grundsätzlich schwierig bei den Siegeln ist, dass Unternehmen denken, super, wir bekommen ein Siegel und haben unserer Sorgfaltspflicht genüge getan. Aber das reicht einfach nicht aus. Als Unternehmen muss man die Lieferkette kennen, man muss intensiv in den Dialog mit seinen Lieferanten gehen. Erst wenn man diese gut kennt, ist es möglich, Schwächen zu verbessern und sicherzustellen, dass gute Standards umgesetzt werden. Tatsächlich ist es aber so, dass viele Unternehmen ihre Lieferkette überhaupt nicht kennen.
Hier könnte ja das neue Lieferkettengesetz greifen.
Das ist auf jeden Fall ein Ansatz. Es geht ja darum, dass Unternehmen auch in der tieferen Lieferkette, also beispielsweise in der Spinnerei aktiv werden müssen, wenn Vorkommnisse oder Verstöße gemeldet werden. Gleichzeitig gibt es aber kein Klagerecht für Betroffene vor deutschen Gerichten, das sehen wir kritisch. Insgesamt müssen wir wohl erst die Umsetzung abwarten und beobachten, wie gründlich die Unternehmen eigentlich geprüft werden.
Auch auf EU-Ebene wird ja ein neues Lieferkettengesetz diskutiert…
Der Entwurf hat an vielen Stellen noch Mängel, ist aber besser als die deutsche Variante. So soll es Klagemöglichkeiten für Betroffene geben. Gleichzeitig soll aber die Beweispflicht, dass Arbeitsrechte verletzt werden, bei den Betroffenen liegen. Da muss nachgebessert werden: Das Unternehmen sollte nachweisen müssen, dass es Umwelt- und Sozialstandards eingehalten hat.
In der Debatte nach der Katastrophe von Rana Plaza ging es medial und bei vielen Aktivist*innen um das »Problem Billigklamotten«. Besonders Unternehmen wie Kik standen im Fokus. Geht es um günstige Klamotten?
Nein, überhaupt nicht. Besonders Wirtschaftsvertreter*innen behaupten das immer gerne. Aber es stimmt nicht. Ich bin selbst immer wieder in Fabriken unterwegs, da läuft in der einen Reihe Kik und in der nächsten Hugo Boss oder Gucci. Alle lassen in denselben Fabriken produzieren. Der Unterschied liegt dann in der Verarbeitung oder der Auswahl der Stoffe. Bei den Arbeitsbedingungen jedoch gibt es keinen. Wer teure Kleidung kauft, sorgt nicht dafür, dass Arbeits- und Sozialstandards eingehalten werden.
Was also tun?
Man muss genau schauen, von wem man kauft. Aber es ist natürlich eine Zumutung, wenn Verbraucher*innen das alles selbst per Recherche herausfinden sollen. Deshalb braucht es das Lieferkettengesetz, das diesen Schritt leistet und die Unternehmen prüft. Auch wenn wir im Grunde durch zahlreiche Studien ja schon wissen, dass Arbeitsrechte in den Textilfabriken verletzt werden. Die Näherinnen werden entlassen, wenn sie sich etwa gewerkschaftlich organisieren. Seit der Pandemie ist der Arbeitsdruck sogar gestiegen, das Produktionssoll wurde gesteigert. Das sind die Fakten, die wir längst kennen.
Wenn Sie heute auf die Textilbranche blicken. Was sehen Sie?
Das größte Problem der Textilbranche ist die Überproduktion. Die Anzahl der weltweiten Kleidungskäufe hat sich zwischen 2000 und 2015 auf 100 Milliarden verdoppelt. Davon wird sehr sehr viel ungetragen weggeworfen, anderes ein, zweimal angezogen, bevor es in der Tonne landet. Das ist ein massiver Schaden, sowohl für die Umwelt wie auch für die Arbeiter*innen. Die von ihnen unter schlimmen Arbeitsbedingungen hergestellte Kleidung wird ungetragen weggeworfen. Das ist doch Wahnsinn! Wir brauchen weniger Produktion, weniger Kleidungsstücke, die dafür länger haltbar sind – auch im Gedenken an die Opfer von Rana Plaza, die für Fast Fashion gestorben sind.
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