Solidarität: Werbung für den dritten Pol

Solidarität bedeutet für Natascha Strobl nicht Charity, sondern weitaus mehr

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist eine Streitschrift gegen die grassierende Hoffnungslosigkeit. Ein Plädoyer für Mut und Zuversicht. Natascha Strobls Bändchen »Solidarität« macht es mit seinen reichlich 100 Seiten Lesern und Leserinnen allerdings nicht eben leicht. Denn die Politikwissenschaftlerin und Publizistin aus Wien, die neben »Zeit online«, »Taz« und »Standard« auch für das »nd« regelmäßig schreibt, versteht ihr Essay als »Antidot« (also Gegenmittel) gegen Fatalismus, Zynismus und Defätismus. Da sind sie also wieder – die Fremdwörter und die Ismen. Und wie von selbst kommt einem sofort der gute alte Lenin in den Sinn, der vor mehr als 100 Jahren so vehement »weniger politisches Wortgeprassel« gerade von der schreibenden Zunft eingefordert hat. Lenin ist zwar ein bisschen aus der Mode gekommen und hat sich selbst nicht immer an diesen Maßstab gehalten, aber seine Aufforderung, in der publizistischen Arbeit näher ans Leben zu rücken, dürfte noch oder gerade heute manchem Konsumenten veröffentlichter Texte ein Wunschtraum bleiben.

Dabei sollte man, wie Strobl richtig anmerkt, auch oder vielleicht insbesondere bei so wichtigen Signalwörtern wie Solidarität nicht in Naivität verfallen. »Sie ist eben nicht Charity, sondern ein eigener Wert, der, nicht zufällig, seinen Ursprung in der organisierten Arbeiter:innenklasse hat«, schreibt die Autorin. Und unterscheidet sehr nachdrücklich zu Nettsein, Mildtätigkeit oder Gutsein als individuelle Tugenden, die man vor sich hertragen kann. Strobl will vielmehr nach detaillierter Schilderung der gegenwärtigen Anhäufung von Krisensituationen, gängigen unterschiedlichen Formen der Krisenbearbeitung – liberal oder autoritär – für eine solidarische Herangehensweise als dritten Pol werben. »Diese solidarische Krisenbearbeitung versucht nicht, den Kapitalismus einzuhegen und schön zu kleiden, wie es neoliberale Ansätze machen. Sie versucht aber auch nicht, den Kapitalismus in einer Kulturkampflogik (vermeintlich) zu überwinden«, schreibt Strobl. Und regt an, Solidarität »als Klammer zu betrachten, innerhalb derer an vielen verschiedenen Ansätzen gearbeitet werden kann«.

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Solidarität als antikapitalistische Klammer und kollektiver Wert, der individuelle Befindlichkeiten überwindet, weil die Art, wie wir leben, produzieren und wirtschaften, sich grundsätzlich ändern muss – das ist der Ansatz der Autorin. Ganz im Sinne ihres Grundgedankens, »eine Mehrheit jener zu organisieren, die keine andere Möglichkeit haben, ihre Interessen durchzusetzen, als im Zusammenschluss mit anderen«. Nicht nur als Ideal oder Tugend, sondern als praktische Strategie der Interessendurchsetzung – unabhängig von persönlicher Sympathie oder Wertschätzung, aber auf Augenhöhe und im gegenseitigen Vertrauen. Und im Einvernehmen, dass man aus verschiedenen Richtungen an derselben Sache arbeitet – im Ringen um Mehrheiten.

Solidarischer Antikapitalismus, wie er Strobl vorschwebt, hat viel mit Vision, aber auch viel mit Akzeptanz der Verschiedenartigkeit und großer Verantwortung zu tun. Insofern hat die Publizistin auch den Linken einiges ins Stammbuch zu schreiben. »In Zeiten, in denen alles im Wandel begriffen ist, ist es wichtig, das für alle sichtbare Ende des Kapitalismus auch als solches zu benennen und den Menschen die Angst vor dem Danach zu nehmen. Ohne rein performative Verbalradikalität und ohne elitäre Phrasendrescherei«, mahnt sie. Die Zukunft stehe so offen wie nie. Aber diesem historischen Augenblick gerecht zu werden hieße, Allianzen, Bündnisse und Gemeinsamkeiten zu suchen – und eben die solidarische Klammer zu definieren, die nicht klein und elitär sein dürfe, sondern in der sich viele Menschen versammeln können.

Vorgelebt wird derlei schon eine ganze Menge. Womit wir wieder bei Lenin wären. Denn der beließ es nicht bei seinen abwertenden Bemerkungen zum politischen Wortgeprassel, sondern forderte zugleich »mehr Aufmerksamkeit für die einfachsten aber lebendigen … Tatsachen«. Natascha Strobl hat dies durchaus beherzigt. Denn im letzten Kapitel ihres Solidaritätsbuches kommen 30 Menschen, Gruppen, Netzwerke und Organisationen zu Wort, um »stellvertretend für Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum und weltweit« Solidarität im Kontext des eigenen Engagements vorzustellen. Ärzte ohne Grenzen, Amadeu-Antonio-Stiftung, Antifa-Initiativen, Armutskonferenz, Attac, Geflüchtetenhilfsorganisationen, Black Voices Austria, Ende Gelände, Deutsche Wohnen & Co enteignen, Fridays vor Future, Ukraine-Hilfen, Genug ist genug, LGBTIQ-Community, Gewerkschaften, Letzte Generation, Österreichische Kinderfreunde, Offensiven und Omas gegen Rechts – sie alle haben das große Wort Solidarität auf ihre ganz eigene Weise übersetzt und arbeiten seit Jahren jeden verdammten Tag daran, es mit Leben zu erfüllen.

An dieser Stelle hätte die Rezensentin gern noch viel mehr gelesen – von wem wann wo gegründet, wie viel Mitstreiter, welche Probleme, Erwartungen, Perspektiven, was macht Mut, was nervt – als ein paar schmale Zeilen zum Solidaritätsbegriff. Denn bei aller akademischen Betrachtung oder kürzeren Übersetzungsversuchen bleibt eben nur wenig von jener Wärme, die das Wort Solidarität bei den meisten von uns als menschliches Gefühl auslöst. Aber vielleicht ist das genauso vorgestrig wie der olle Lenin.

Natascha Strobl: Solidarität. Kremayr & Scheriau, 128 S., geb., 20 €.

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