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Was ist eigentlich los mit uns?

In »Digitale Diagnosen« Laura Wiesböck, dass der Mental-Health-Trend in den sozialen Medien zu einer Entpolitisierung psychischen Leidens führt

  • Nora Kühnert
  • Lesedauer: 6 Min.
Social-Media-Trend »Sad Girl«: Im Kapitalismus wird selbst die eigene Psyche zu Markte getragen.
Social-Media-Trend »Sad Girl«: Im Kapitalismus wird selbst die eigene Psyche zu Markte getragen.

Ist das Streben nach mentaler Gesundheit und ein offenes Sprechen darüber etwas Gutes? Die Soziologin Laura Wiesböck kommt in ihrem Buch »Digitale Diagnosen« zu dem Schluss: In gewisser Weise, ja – zumal psychische Krankheit in der Vergangenheit lange stigmatisiert wurde. Aber in unserer am Nutzen orientierten Gesellschaft, so Wiesböck, stehen die Orientierung an Produktivität, Effizienz und Eigenverantwortung in einem generellen Widerspruch zu den Grundbedürfnissen für unser Wohlbefinden. Dies führt dazu, dass immer häufiger psychiatrische Diagnosen genutzt werden, um eigentlich gewöhnliche menschliche Reaktionen auf alltägliche Leiden zu beschreiben. Der Boom der mentalen Gesundheit kann so weit gehen, dass sich Menschen heute kaum mehr eine legitime Auszeit erlauben, ohne dabei auf eine Krankheit zu verweisen. Und was sagt es eigentlich über uns als Gesellschaft aus, dass die Trauer über den Verlust einer nahestehenden Person nach zwei Wochen als depressive Episode, also psychische Neurose, klassifiziert wird?

Nach dem Motto »Hard on systems, soft on people« formuliert Wiesböck eine messerscharfe und trotzdem zarte Analyse des Social Media Trends »Mental Health«, also des Booms der mentalen Gesundheit in den sozialen Medien. Sie nimmt spezifische digitale Phänomene und deren sozio-ökonomische Rahmenbedingungen in den Blick und zeigt, dass nicht allein alltägliches Leid immer häufiger als krankhaft eingestuft wird, sondern diese psychologischen Diagnosen zugleich zunehmend vermarktet werden. Diese Entwicklung führe zu einer Sinnentleerung und Entpolitisierung der psychologischen Diagnosen.

Scheinrebellion der traurigen Mädchen

Um zu zeigen, wie genau der psychologische Boom in den sozialen Medien aussieht, betrachtet Wiesböck beispielsweise den Trend der »Sad Girls«. Damit ist ein Typ Frau gemeint, der Trauer auf Instagram und Tiktok ästhetisch inszeniert und damit nur scheinbar rebellisch den Frauen gegenübersteht, die ihr Leben angeblich immer im Griff haben und auf den Plattformen häufig als »That Girl« bezeichnet werden. Die öffentlich gezeigte Traurigkeit soll eine Gegenreaktion auf das neoliberale feministische Ideal darstellen, dass Frauen als selbstbestimmte Erfolgsgestalterinnen sieht – mit Selbstliebe und wirtschaftlichem Aufstieg als Ziel.

Doch hinter dieser gesellschaftlich akzeptierten Traurigkeit der in der Regel weißen und normschönen Frauen bleibt, so Wiesböck, ihre gesellschaftlich gefürchtete Wut weiterhin verdeckt. An Rebellion gegen die Verhältnisse ist bei den »Sad Girls« nicht zu denken: Depressive Frauen sind für das bürgerliche »Allgemeinwohl« letztlich vermutlich dienlicher als wütende. Wütende Frauen hingegen würden tief sitzende kulturelle Ängste schüren, weil Zorn auch eine mächtige Triebkraft für politischen Widerstand ist – etwa gegen eine Gesellschaft, die weibliche Perspektiven eindimensional darstellt, wie in Form der »verrückten Ex-Freundin«, dem »Feminazi« oder der »Angry Black Woman«. Wut kann so nicht für sich genommen mit Sinn besetzt werden und ein Aufbegehren gegen die bestehenden Verhältnisse wird erschwert.

Depressive Frauen sind für das bürgerliche »Allgemeinwohl« letztlich dienlicher als wütende.

Interessanterweise bezieht sich Wiesböck im Laufe des Buches immer wieder auf die Dimension persönlicher Trauer über gesellschaftliche Ereignisse, zum Beispiel die globale Pandemie Covid-19. Sie fragt, ob es nicht einfach normal ist, durch solche einschneidenden Ereignisse aus dem alltäglichen Trott zu kommen. So habe etwa mit dem Beginn der Covid-19-Krise die Konzentrationsfähigkeit vieler Menschen plötzlich ungewöhnlich stark abgenommen, während gleichzeitig – wie durch Zauberhand – die ADHS-Diagnosen ebenso aus dem Boden sprossen wie Medikamente zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit. Ist das ein Zufall? Wiesböck meint: Nein. Anstatt zu trauern, würden wir uns eine Steigerung der Leistungsbereitschaft sowie eine Unterdrückung von Müdigkeit und körperlicher Abgeschlagenheit wünschen. Die gegenwärtige Orientierung an Produktivität, Effizienz und Eigenverantwortung ließe für Zeiten der Orientierungslosigkeit, das Zulassen und Ausleben von emotionalem Schmerz keinen Platz.

Auch zeigt Wiesböck auf, dass soziale Ungleichheit psychisch krank machen kann: Rassismus und Diskriminierung können ebenso zu Angststörungen führen wie Leistungsdruck und eine gesellschaftliche Wachstumslogik. Vor allem dann, wenn steigende Lebenshaltungskosten und unsichere Arbeitsverhältnisse die wirtschaftlichen Bedingungen vieler Menschen zunehmend verschlechtern. So wird derzeit der Bildungsaufstieg weiter erschwert, Sozialleistungen werden gekürzt und viele Menschen kämpfen als sogenannte Working Poor, also als trotz Vollzeitjob konstant armutsbetroffene Arbeitskräfte um ihre Existenz. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob psychische Erkrankungen vor allem als persönliche psychische Leiden betrachtet werden sollten – oder ob sie nicht eher Ausdruck struktureller Probleme sind.

Neurosen als Modephänomen

Gleichzeitig treibt das Modephänomen psychische Krankheit absurde Blüten: So gibt es richtige Accessoires zum Thema Neurosen zu kaufen, etwa kristallbesetzte »Anxiety-Haarspangen« (anxiety lautet auf Deutsch Angst, Anspannung, Anm. d. Redaktion). Derartige Produkte werden vor allem auf und von Personen mit perfekten Körpern vermarktet, die Ansehen, Erfolg und Sexyness repräsentieren. Ein Beispiel dafür ist die Influencerin Corinna Kopf, die über sechs Millionen Follower*innen auf Instagram hat, Content für die Erotik-Plattform OnlyFans produziert und das Shirt »My anxieties have anxiety« erfolgreich auf den Markt brachte.

Diese Vermarktung des mentalen Leidens führt Wiesböck auf die marktförmigen Logiken von Social-Media-Plattformen zurück. Zugespitzt formuliert: Mit psychischem Leiden lässt sich heute auch gut Geld verdienen. Zu einer Steigerung der Sensibilität gegenüber den tatsächlichen Belastungen von Erkrankten führt das aber nicht unbedingt. Stattdessen kann eine Orientierung am Profit eher zu einer Sinnentleerung von psychologischen Begriffen führen.

Zwar sind die persönlichen Erfahrungen mit psychischen Krisen überall spürbar und die Präventions- und Behandlungsangebote sind vielfältiger geworden. Es gibt Kriseninterventionen, Selbsthilfegruppen, Hotlines, Apps und verschiedene Therapieformen um psychologische Unterstützung zu bekommen. Das ist begrüßenswert! Doch gleichzeitig wird das Spenden von Trost gerade im Internet zunehmend als unbezahlte emotionale Arbeit betrachtet. Belasteten Menschen wird immer öfter geraten, sich lieber an eine Therapeutin zu wenden. Verletzlichkeit gilt nicht mehr als natürlicher Teil des Menschseins, sondern als Störfaktor im reibungslosen Ablauf von Leistung und Konsum – ein Problem, das schnell und effizient behoben werden muss.

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Laura Wiesböck zeigt in ihrem Buch, dass die Enttabuisierung mentalen Leids in den sozialen Medien gleichzeitig zu dessen Entpolitisierung führt. Ihre kritische Reflexion der »Digitalen Diagnosen« lässt nichts unhinterfragt, ist dabei aber nicht kompliziert zu lesen. Die Leser*in kann daraus mitnehmen, dass es mehr gemeinschaftliche Räume braucht, in denen Menschen in ihren Krisen, ihrer Erschöpfung oder Traurigkeit akzeptiert werden – ohne unter Druck zu stehen, daraus Profit zu ziehen, Optimierung oder Wachstumszwang zu folgen. Diesem Grundgedanken des Buches könnte man noch hinzuzufügen, dass die Akzeptanz, das Durcharbeiten und letztlich die Überwindung persönlicher Krisen schlichtweg viel Zeit brauchen – ein Umstand, der dem Streben nach Effizienz ebenfalls entgegensteht.

Aber sowohl in psychotherapeutischen Institutionen als auch bei den Patient*innen selbst finden lang dauernde Behandlungsmethoden, die Krisen mehr Zeit geben wollen, immer weniger Anklang – auch weil dies viel Geld kosten kann und den Betroffenen an anderer Stelle die Zeit dann wieder fehlt. Stattdessen wird die Anwendung von Apps zur Behandlung psychischer Probleme als fixes und kostengünstiges Hilfsangebot vorangetrieben. Die klassische Psychoanalyse beispielsweise, die eine tiefgreifende Bearbeitung von psychischen Problemen anstrebt und viel Zeit in Anspruch nimmt, verliert nicht nur bei den Krankenkassen, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein und sogar im staatlichen Psychologiestudium zunehmend an Legitimität. Es bleibt zu hoffen, dass sich bald politischer Widerstand regt gegen die allgegenwärtige Effizienzsteigerung im Bereich der mentalen Gesundheit. Das Buch von Laura Wiesböck kann jedenfalls als Beitrag hierzu gelesen werden.

Laura Wiesböck: Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend. Zsolnay, 173 S., br., 22 €.

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