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Auf Georges Simenons Spuren

Anlässlich seines 120. Geburtstags unterwegs in der belgischen Heimat von Kommissar Maigrets geistigem Vater

  • Karsten-Thilo Raab
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Ufer der Maas in Lüttich
Am Ufer der Maas in Lüttich

Da sitzt er scheinbar lässig und entspannt auf einer Parkbank auf dem Place du Commissaire Maigret vor dem Rathaus seiner Geburtsstadt Lüttich. Den charakteristischen Hut auf dem Kopf; seine kaum weniger markante Pfeife hält er in der linken Hand, den rechten Arm hat er ausgestreckt auf der Rückenlehne des Sitzmöbels ausgebreitet. Die Bronze funkelt ein wenig in der Sonne. Vor allem die Oberschenkel und Hände sind blank gescheuert und zeugen zugleich von der Popularität, die Georges Simenon bis heute erfährt. Denn fast jeder will den Schöpfer der Kommissar-Maigret-Abenteuer wenigstens einmal berühren oder sich kurz für ein Selfie neben ihm niederlassen. Wer weiß, vielleicht springt ja etwas von seiner schriftstellerischen Genialität über?

Reiseinfos
  • Allgemeine touristische Infos:
    www.visitezliege.be/de
  • Anlässlich seines 120. Geburtstags wurde in Lüttich ein neu konzipierter, digitaler
    Simenon-Rundgang freigeschaltet. Die kostenfreie, deutschsprachige App »Parcours Simenon« führt auf einem knapp 3,4 Kilometer langen Rundkurs zu 17 Stationen.
  • Bis zum 27. August 2023 zeigt das Museum
    Grand Curtius in Lüttich eine Sonderausstellung »Simenon, images du monde en
    crise« (Simenon – Bilder einer Welt in der Krise). www.grandcurtius.be

    Unabhängig davon hätte die Stadt Liège, wie Lüttich auf Französisch heißt, das Denkmal ihres berühmtesten Sohnes wohl kaum besser platzieren können. Denn direkt gegenüber fällt der Blick auf das eher unscheinbare Haus mit der Nummer 24 in der Rue Léopold, wo Georges Simenon am 13. Februar 1903 in der zweiten Etage in einer, wie er selber beschreibt, »Wohnung ohne Gas und Wasser« das Licht der Welt erblickte. Seine Mutter Henriette ließ die Geburt allerdings aus Aberglauben auf den 12. Februar vordatieren.

    Auch das Rathaus, im Volksmund »La Violette« (das Veilchen) genannt, steht in engem Bezug zu Georges Simenon. An der Fassade prangt eine steinerne Gedenktafel für die Helden des Krieges. Unter anderem ist hier ein gewisser »Arnold Maigret« gelistet. Jener Arnold Maigret war der Fahrer von Lüttichs damaligem Polizeichef. Dass Simenon den Mann gekannt hat, ist unumstritten. Ob er den Namen seines berühmtesten Romanhelden, der ihn und seine Erben unendlich reich gemacht hat, tatsächlich in Anlehnung an Arnold Maigret gewählt hat, dürfte aber ein Geheimnis bleiben. Fest steht jedoch, dass der junge Simenon im Alter von gerade einmal 16 Jahren als angehender Lokalreporter für die Tageszeitung »Gazette de Liége« jeden Nachmittag zur Polizeizentrale am Place du Marché stiefelte, um sich dort – vermutlich auch von Arnold Maigret – über die neuesten Verbrechen und Straftaten des Tages berichten zu lassen.

    So oder so scheint der am 4. September 1989 verstorbene Vielschreiber bis heute an nahezu jeder Ecke der 195 000-Seelen-Stadt am Zusammenfluss von Ourthe und Maas präsent zu sein. Nur einen Steinwurf von seinem Geburtshaus entfernt liegt der Pont des Arches. Diese Brücke über die Maas gab Simenons erstem Roman, den er 1920 unter dem Pseudonym »Georges Sim« veröffentlichte, den Namen. In seinem Erstlingswerk befasst er sich auf humorvolle Art mit Lütticher Sitten und Gebräuchen.

    Ohne Frage war Georges Simenon ein manischer Schreiber, der in die Seelen seiner Protagonisten hineinkroch. Er versuchte, alles zwischen zwei Buchdeckeln zum Ausdruck zu bringen, was er ein Stück vom wirklichen Leben nannte. Bekannt war Simenon aber auch aufgrund seiner prahlerischen Vielweiberei – angeblich hatte er mit 10 000 Frauen sexuelle Verhältnisse. Seine vermeintlich berühmteste Liebschaft war Josephine Baker, über die er einmal schrieb, sie besitze »den einzigen Popo, der lacht«.

    Sein herzkranker Vater starb früh, seine Mutter Henriette war fortan auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen. Fast rastlos wechselten die Simenons in den folgenden Jahren mehr als 30-mal ihre Wohnung, zogen kreuz und quer durch Lüttich um. Vor allem im Stadtteil Outremeuse finden sich daher bis heute zahllose Spuren des jungen Georges. Und doch wird hier kein aufgesetzter »Hier-hat-Simenon-einmal-gewohnt-Kult« gepflegt. Einzige Ausnahmen bilden die Simenon-Büste am Place du Congrès, eine nach ihm benannte Straße und die moderne Jugendherberge, die ebenfalls den Namen des Autors mit der positiven kriminellen Energie trägt. Ansonsten gemahnt das hier und da schmuddelige Viertel an die übriggebliebene Kulisse in Simenons Krimiwelt. Ein perfekter Rahmen für dessen Romane, in denen nicht selten durchschnittliche Menschen durch banale Ereignisse zu Mördern werden.

    Überhaupt besticht Outremeuse durch ein Wirrwarr an gemütlichen und einladenden Gängen und Passagen, die teilweise wie private Wohnhöfe wirken. Wandkapellen, Nischen mit kleinen Statuen der Jungfrau Maria, zieren die Wohnhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert. In einem der Hinterhöfe liegt »La Caque«, die Heringstonne, jener winzig kleine Versammlungsort, an dem sich Georges Simenon regelmäßig mit seinen trinkenden und rauchenden Künstlerfreunden traf. Darunter auch der Maler Jean Joseph Kleine, der sich am 2. März 1922 mit einer Schlinge um den Hals an der Türklinke der benachbarten Saint-Pholien-Kirche erhängt haben soll. Simenon, der immer Zweifel am Freitod von Kleine hegte, verarbeitete dieses traurige Ereignis in seinem Roman »Der Erhängte von Saint Pholien«.

    Beim Gang vorbei an Simenons Wohnhäusern, Schulen und den Kirchen, die er besuchte, wird unweigerlich deutlich, dass Lüttich Simenons Fluch, aber auch der Segen seines Erfolges war. Durch sein ganzes Werk hindurch sind Landschaften, Persönlichkeiten und ein Ambiente zu finden, das in Teilen noch immer typisch für Lüttich ist. Dazu gehören die Wohnhäuser entlang der Montagne de Bueren, jener 373 Treppenstufen, die hinauf zur Zitadelle führen. Insbesondere auch die schon legendären Flohmärkte in Outremeuse und am Ufer der Maas zählen dazu – vor allem »La Batte«, Europas längster Flohmarkt, der immer sonntags stattfindet. Ihn beschrieb Simenon so: »Am frühen Morgen bietet sich in einer blau- und goldfarbigen Symphonie das schönste Spektakel der Welt: Überall, soweit man sehen kann, breitet sich der Markt aus: links der Gemüsemarkt, rechts der Obstmarkt; Tausende Weidenkörbe zeichnen richtige Straßen, Sackgässchen, Kreuzungen; Tausende kurzbeinige Klatschweiber haben die Taschen ihrer dreischichtigen Röcke voller Kleingeld.«

    Irgendwie scheint beim Besuch von »La Batte« die Zeit stillzustehen. Man fühlt sich inmitten der antiken Schätze unweigerlich in Simenons Lüttich zurückversetzt. Eine Stadt, die den Autor nie losgelassen hat. Von den Bildern, den Geräuschen, den Gerüchen und der Atmosphäre der aufstrebenden Industriestadt Lüttich zehrte er später beim Schildern seiner Romanschauplätze. Wenn er über Concarneau schrieb, meinte er Lüttich. Und die Rechtsanwälte, Kaufmänner, Witwen, Versicherungsangestellten und anderen Protagonisten, deren Katastrophen in Los Angeles, Amsterdam oder Paris angesiedelt sind, waren alle Lütticher wie Simenon, der am 10. Dezember 1922 am Bahnhof Guillemine allein in den Nachtzug nach Paris stieg und von dort nur noch wenige Male in seine Geburtsstadt zurückkehrte.

    Der Autor recherchierte mit Unterstützung von Thalys und Belgien-Tourismus Wallonie.

    Simenon-Denkmal am Place du Commissaire Maigret in Lüttich
    Simenon-Denkmal am Place du Commissaire Maigret in Lüttich
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