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- Schach-WM 2023
Ding Liren ist Chinas erster Schach-Weltmeister
Der Nachfolger von Magnus Carlsen ist gefunden. Eine unglaubliche Reise voller Hindernisse hat ihr Happy End
Ding Liren wollte Jan Nepomnjaschtschis Hand gleich zweimal schütteln. Einmal direkt nach der Aufgabe des Russen in der entscheidenden Partie der Schach-Weltmeisterschaft, dann Sekunden später noch mal, als er erkannt hatte, dass nun auch die ganze WM vorbei war. Was folgte, waren nur schwer im Zaum gehaltene Emotionen. Nepomnjaschtschi stand auf, trat von der Bühne und war so sauer, dass er seine Trinkflasche fast auf den Boden geschmettert hätte. Ding hingegen vergrub das Gesicht minutenlang in seinen Händen. »Ich habe einfach nur geweint«, beschrieb er den Moment später. Eine unglaubliche Reise voller Hindernisse hatte ihr Happy End gefunden.
Eigentlich hätte der 30-Jährige Ding aus der Millionenstadt Wenzhou, der sich nun erster klassischer Schach-Weltmeister Chinas bei den Männern nennen darf, nicht einmal am WM-Tisch sitzen sollen. Er war für das Kandidatenturnier im Sommer 2022 zunächst nicht zugelassen worden, weil er durch die Reisebeschränkungen Chinas während der Corona-Pandemie zu wenige Turnierspiele auf hohem Niveau bestritten hatte.
Dann aber wurde der Russe Sergej Karjakin ausgeschlossen, nachdem dieser Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu euphorisch öffentlich gefeiert hatte. Ding bekam eine neue Chance, und Chinas Verband stampfte mehrere Turniere aus dem Boden, bei denen sein Star 28 mal in einem Monat gegen Landsleute spielen konnte. Er gewann 13 Partien und spielte 15-mal remis. Das reichte für die Qualifikation in letzter Minute.
In Madrid lag Ding dann vor der letzten Partie nur auf Rang drei, gewann aber gegen den US-Amerikaner Hikaru Nakamura noch und sicherte sich Platz zwei hinter Nepomnjaschtschi. Das hätte zwar auch nicht gereicht, doch kurz danach zog Titelverteidiger Magnus Carlsen zurück, und plötzlich saß Ding Liren mit am WM-Brett.
In Astana entwickelte sich in den vergangenen Wochen nun eins der abwechslungsreichsten WM-Duelle seit Jahrzehnten. Viermal ging der unter neutraler Flagge spielende Nepomnjaschtschi in Führung, in den Partien zwölf und 14 stand er gleich zweimal kurz vor dem Titelgewinn, konnte Gewinnstellungen jedoch nicht in Siege ummünzen. Sein chinesischer Kontrahent kam jedes Mal wieder zurück und erzwang somit beim Endstand von 7:7 einen Tiebreak von vier Schnellschachpartien. Die allerletzte davon sicherte sich Ding am Sonntag – seine erste Führung im gesamten Match reichte zum Gewinn des WM-Titels.
»Diese WM reflektiert das Tiefste meiner Seele«, philosophierte der recht wortkarge, schmächtige neue Weltmeister. Seit er vier Jahre alt ist, spielt er Schach. »26 Jahre habe ich damit verbracht, zu spielen, zu analysieren, mich zu verbessern. Und in Zeiten ohne Turniere fand ich es schwierig, Momente zu finden, die mich wirklich glücklich machten. Für mich ist der Sinn des Lebens nicht der Alltag, sondern das Streben nach den ganz besonderen funkelnden Momenten.« So einen hat er in Astana nun ganz offensichtlich erreicht, und die Gefühle übermannten ihn.
Die tiefste Emotion sei jedoch nicht Freude, sondern Erleichterung, meinte Ding im Anschluss an den Tiebreak im Schnellschach. Er würde nun gern etwas reisen. Vielleicht mal nach Turin, »um ein Spiel von meinem Lieblingsverein Juventus zu sehen«. Natürlich nur, wenn er Zeit habe, konnte Ding wohl schon ahnen, dass er in China nun einige Termine haben würde.
Auf dem Kurznachrichtendienst Weibo bejubelten Nutzer den Erfolg: »Wir Chinesen sind auf die höchste Schachbühne aufgestiegen«, hieß es einerseits. Ding sei der »Stolz Chinas« meinten andere. Mit dem Weltmeistertitel sei »der lang gehegte Wunsch mehrerer Generationen chinesischer Schachspieler erfüllt worden«, stellte die Zeitung »Hangzhou Ribao« fest. Der neue Weltmeister schreibe »Geschichte für Chinas nationales Ansehen«.
Es ist nicht damit zu rechnen, dass Ding diesen Trubel genießen wird. Schon während der WM versuchte er stets, der Anspannung zu entfliehen: »Ich war gern nahe des Hotels am Fluss spazieren und habe mich im Park einfach auf die Wiese gesetzt, um zu regenerieren. Ich habe auch viele Fotos gemacht, vor allem am Tag, als Schnee fiel«, verriet Ding fast schon in einem naiv-kindlichen Ton.
Dabei erwies er sich am Brett als durchaus mutiger Draufgänger. In der entscheidenden Partie hatte er die Chance auf ein sicheres Remis, doch Ding verzichtete auf die Zugwiederholung und spielte danach riskant aber präzise auf Sieg. »Wenn man eine Chance auf den Sieg hat, dann muss man sie ergreifen«, beschrieb der Chinese später diesen Moment des Muts.
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