- Politik
- Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen
Genau hingeschaut
Das Projekt Abschiebungsreporting NRW schafft eine Öffentlichkeit für fragwürdige Abschiebungen
Der Kreis Wesel schiebt einen suizidgefährdeten Mann nach Sri Lanka ab. Erst am Flughafen Frankfurt am Main wird die Abschiebung gerichtlich gestoppt. Ein berufstätiger Mann im Kreis Borken musste nach Pakistan zurückkehren, obwohl seine Verlobte ein festes Aufenthaltsrecht in Deutschland hat. Oder: Ein junger Familienvater wurde nach Tadschikistan geschickt und dort Opfer politischer Verfolgung. Inzwischen wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Um solche Schicksale kümmert sich das Abschiebungsreporting NRW. Es hilft zwar den Betroffenen nicht direkt, aber es schafft Öffentlichkeit. Dafür recherchiert die Initiative akribisch jeden Fall, bevor sie ihn publiziert. Ihr gehe es um Aufarbeitung und Aufklärung über »teils rechtswidrige staatliche Abschiebepraktiken«, erklärt der Projektleiter Sebastian Rose bei einem Vortrag beim Verein »Solidarische Gesellschaft der Vielen« im Duisburger Stadtteil Hochfeld. Eine solche Dokumentationsstelle habe bislang für Nordrhein-Westfalen gefehlt. »Unser Projekt macht inhumane Aspekte der Abschiebungspraxis anhand von Einzelfällen öffentlich«, sagt der 38-Jährige. Mitte August 2021 begann das Projekt, es ist zunächst für zwei Jahre beim Kölner Komitee für Grundrechte und Demokratie angesiedelt. Die evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen, die evangelische Kirche in Deutschland und Pro Asyl unterstützen es.
Die Initiative nimmt insbesondere solche Abschiebungen in den Blick, deren Vollzug aus humanitären Gründen unverhältnismäßig oder gar rechtswidrig war. »Wir erleben leider auch immer wieder Abschiebungen oder Abschiebeversuche gegen geltendes Recht«, erklärt Rose. Bundesweit sind laut dem Grundrechtekomitee bei rund 50 Prozent aller Abschiebungen Rechtsmittel wohl noch möglich. Es fehle aber schlicht an der Zeit dazu, heißt es; das wüssten natürlich auch die anordnenden Behörden und
die Bundespolizei.
Abschiebungsreporting NRW dokumentiert beispielhafte Fälle, bei denen der Staat gegen Recht verstößt. Wie etwa im Kreis Viersen, als im November 2022 ein Mann trotz einer bestehenden gerichtlichen Anordnung, die bereits laufende Maßnahme abzubrechen, in die Demokratische Republik Kongo abgeschoben wurde. Der Mann war schwer psychisch erkrankt, suizidgefährdet und stand deshalb unter gesetzlicher Betreuung. Die Abschiebung wurde entgegen dem Gerichtsbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf nicht abgebrochen.
Darüber und über viele andere Abschiebungen werden in Zusammenarbeit mit den Betroffenen und deren rechtlichen Vertreter*innen Berichte und Pressemitteilungen verfasst. »Wir anonymisieren die Daten, nennen aber den Ort und die Verantwortlichen, auch wenn jede Stelle aus dem undurchsichtigen Abschiebungssystem die Verantwortung von sich weisen will«, erläutert Rose.
Lokalzeitungen aus den betreffenden Kommunen und auch überregionale Medien greifen nicht selten die Fälle auf und sorgen so weiter für Diskussion. »Manchmal befasst sich aufgrund der Berichterstattung auch der Stadtrat, der Landtag oder gar der Bundestag mit den Fällen, hinter denen immer Menschen stehen. Das wird oft verdrängt«, sagt Rose.
Von Abschiebungen bedroht sind de facto alle Geduldeten sowie Menschen ohne Papiere in Deutschland, egal ob sie arbeiten oder nicht. Das Projekt hat beobachtet, dass die Abschiebungen zurzeit mit zunehmender Härte durchgesetzt würden.
Die Art des behördlichen Vorgehens, wie Rose es schildert, macht bisweilen fassungslos, wenn etwa Familien getrennt und Risikopatient*innen abgeschoben werden, oder wenn selbst Gerichtsurteile die Behörden nicht von einer Abschiebung abhalten. Rose rügt die Sammelabschiebungen in Charterflügen und die teilweise dubiose Zusammenarbeit deutscher Behörden mit Botschaften aus den Zielländern, die Menschen als ihre Staatsangehörigen identifizieren sollen. »Die Abschiebemaschinerie mit ihren ganzen behördlichen Unterabteilungen«, schließt Rose, »wird zunehmend zu einer Blackbox, weil Informationen der Öffentlichkeit vorenthalten werden«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.