Die EU-Kommission musste liefern

Für den Politologen Felix Syrovatka steht die Mindestlohnrichtlinie für einen Diskurswechsel in der EU-Arbeitsmarktpolitik

  • Interview: Simon Poelchau
  • Lesedauer: 6 Min.

Waren Sie überrascht, als sich die EU Ende vergangenen Jahres auf die EU-Mindestlohnrichtlinie einigte?

Ich habe das letzte Kapitel meiner Dissertation über die EU-Arbeitspolitik geschrieben und war damals sehr überrascht über den Entwurf der EU-Mindestlohnrichtlinie, und ich war es noch mehr, als sie in ihrer jetzigen Form verabschiedet wurde. Das ist ein kompletter Diskurswechsel.

Interview

Felix Syrovatka hat zu den arbeitspolitischen Verschiebungen in der EU während der Eurokrise promoviert. Derzeit forscht er an der Freien Universität Berlin zur Politischen Ökonomie der Tarifautonomie. Außerdem ist Syrovatka Mitglied der Redaktion der Zeitschrift »Prokla«.

Was war so überraschend an der Richtlinie?

Erstens, dass es eine Richtlinie ist. Das ist verbindlicher als eine Mitteilung der EU-Kommission. Zweitens waren es die klaren Vorgaben, wie ein solcher Mindestlohn auszusehen hat, nämlich dass er mindestens 60 Prozent des Median- beziehungsweise 50 Prozent des Durchschnittslohns eines Landes betragen muss. Drittens waren es die Vorgaben zur Stärkung der Tarifbindung. Denn in der Eurokrise hat die EU-Kommission die Gewerkschaften noch als Wachstumshemmnis angesehen und zu hohe Löhne für die Krise verantwortlich gemacht.

Was war der Grund für diesen Diskurswechsel?

Mir hat jemand aus der Kommission gesagt, dass sie liefern mussten. Man merkt, dass die EU vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Umbrüche und innereuropäischer Herausforderungen auf der Kippe steht.

Sie beschreiben und analysieren in Ihrem Buch die EU-Arbeitspolitik in den Jahren 2009 bis 2017. Würden Sie sagen, dass die EU vor diesem Diskurswechsel ein neoliberales Projekt war?

Die europäische Integration hat in den letzten 30 Jahren tendenziell dazu geführt, dass Arbeit durch die Binnenmarktkonkurrenz prekärer wurde und vor allem die Gewerkschaften geschwächt wurden. Diese war bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte so angelegt und wurde durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Ende der 2000er-Jahre radikalisiert. Im sogenannten Laval-Quartett hatte der EuGH entschieden, dass die Binnenmarktfreiheiten über dem Streikrecht oder staatlicher Tariftreueregelungen stehen. In der Eurokrise setzte sich dann etwas durch, was ich vertikale Integration nenne: Dass die EU über das europäische Semester, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie über die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF im Rahmen einer Krisenintervention den EU-Staaten Vorgaben machte und so vor allem in die nationalstaatliche Arbeitspolitik eingriff. Damit wurde die zuvor nationale Arbeitspolitik partiell europäisiert und Steuerungsmechanismen institutionalisiert, was ich als Neue Europäische Arbeitspolitik bezeichne.

Inwiefern hat dies die neoliberale Ausrichtung der EU verschärft?

Diese Eingriffe in die Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten geschahen vor dem Hintergrund der Annahme, dass die betroffenen Mitgliedstaaten wegen ihrer zu hohen Lohnstückkosten nicht wettbewerbsfähig gewesen seien. Der Eingriff in die nationale Arbeits- und Tarifpolitik erfolgte also nicht aus sozialpolitischen Erwägungen, sondern weil man Löhne nur als eine wirtschaftspolitische Steuerungsgröße verstand, um die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Deswegen wurde zum Beispiel durchgesetzt, dass in Irland der Mindestlohn gesenkt, in Griechenland die Stellung der Gewerkschaften massiv geschwächt, aber auch in Ländern wie Frankreich das Tarifvertragssystem stärker dezentralisiert wurde. Der Kommission ging es darum, die Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften zu schwächen. In dem Sinne hat die EU durch die Neue Europäische Arbeitspolitik vor allem ihre Kompetenzen erweitert, aus wirtschaftspolitischen Gründen in die Arbeitspolitiken der Mitgliedsstaaten einzugreifen.

Wer waren die Treiber hinter dieser neuen EU-Arbeitspolitik?

Von Krisenbeginn an stand ein – wie ich es im Buch bezeichne – neoliberales Netzwerk hinter dieser Arbeitspolitik. Dieses Netzwerk bestand aus Lobbyorganisationen des europäischen Industriekapitals, Think-Tanks aber auch aus Staatsapparaten wie der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EU-Kommission. Dieses Netzwerk hatte einen starken Einfluss auf die Form der EU-Krisenbearbeitung und die besondere Fokussierung auf Löhne und Wettbewerbsfähigkeit. Wie ich im Buch nachweisen konnte, war insbesondere das organisierte europäische Industriekapital eng in die Politikformulierung eingebunden. Dessen Einfluss kann man zum Beispiel an der Europa-2020-Strategie gut sehen, die so etwas wie die ideelle Grundlage für die Bewältigung der Eurokrise darstellte. Große Teile dieses Strategiepapiers wurden zum Teil wortwörtlich vom European Round Table of Industrialists, einer Lobbyorganisation von rund 50 Wirtschaftsführern großer europäischer multinationaler Unternehmen, übernommen.

Warum konnten die Gewerkschaften dem nichts entgegensetzen?

Während man die Finanz- und Eurokrise in Nordeuropa nur kurz gespürt hatte, wurde Südeuropa massiv von ihr getroffen. Es war sehr schwer, auf europäischer Ebene die unterschiedlichen nationalen Gewerkschaften zu koordinieren. Zudem hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) keine Möglichkeit, institutionellen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess zu nehmen, da die Kommission ihn in der Eurokrise weitgehend ignorieren konnte. Wenn der EGB versuchte, den damaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso oder seine Beamten zu kontaktieren, dann scheiterten sie meist schon im Vorzimmer. Sie versuchten dann, über den damaligen Sozialkommissar Laszlo Andor Einfluss zu nehmen, um das europäische Semester wenigstens sozial zu flankieren. Doch auch der Sozialdemokrat Andor war innerhalb der Kommission isoliert.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich ab 2014 das Blatt langsam wendete. Woran lag das?

Zum einen hatte die EU-Kommission mit ihrer Idee der Einführung sogenannter nationaler Wettbewerbsräte überzogen, die den Tarifpartnern Lohnempfehlungen geben sollten. Zum anderen haben die Gewerkschaften sehr klug agiert. Sie verließen die europäische Ebene und haben stattdessen koordiniert Druck auf die nationalen Regierungen gemacht. In Deutschland beispielsweise aktivierten sie den damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel. Die Gewerkschaften verschafften sich wieder Gehör in Europa. Zudem wurde Ende 2014 auch Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten gewählt, der den Gewerkschaften weniger feindlich gesinnt war als Barroso.

Würden Sie sagen, dass es dadurch zu einer Verschiebung innerhalb der EU kam, weg von einer neoliberalen hin zu einer sozialeren Politik?

Es gibt mit dem europäischen Semester und dem Stabilitäts- und Wachstumspaket weiterhin die Strukturen, die geschaffen wurden, um in der Krise in die Arbeitspolitiken der EU-Staaten einzugreifen. Auch der EU-Binnenmarkt übt weiterhin massiven Druck auf die Löhne aus und befördert trotz Novellierung der Entsenderichtlinie die Prekarisierung der Arbeit. Die Lkw-Fahrer in Gräfenhausen sind dafür nur ein krasses Beispiel. Das hält mich ab, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Aber es gab zuletzt eine diskursive Verschiebung in der EU-Politik. Man scheint erkannt zu haben, dass die Austeritätspolitik, wie sie in der Eurokrise durchgesetzt wurde, das europäische Projekt elementar gefährdete. Schließlich kam es seitdem zum Erstarken des Rechtspopulismus etwa mit der faschistischen Regierung in Italien, Marie Le Pen in Frankreich aber auch der AfD in Deutschland.

Haben Sie dennoch Hoffnung in die EU?

Die Frage ist, was für Alternativen es zur europäischen Einigung gibt. Die EU ist immer noch strukturell ein Gebilde, das eine marktliberale Politik befördert. Es gibt aber auch eine Gegenbewegung, die sich m. E. in der EU-Mindestlohnrichtlinie niederschlägt. Das ist eine Dynamik, die es so in der Eurokrise nicht gab. Und diese Dynamik müssen Linke und Gewerkschaftsbewegung nutzen, um progressive Reformen durchzusetzen und auf EU-Ebene zu stärken.

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