Nach der Krise ist vor der Krise

Timm Graßmann legt aus verstreuten Quellen die Krisentheorie von Karl Marx frei

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 8 Min.
Der DDR-Staatsbank war Karl Marx ein Hunderter wert, Friedrich Engels musste sich mit dem Fünfziger begnügen.
Der DDR-Staatsbank war Karl Marx ein Hunderter wert, Friedrich Engels musste sich mit dem Fünfziger begnügen.

Anfang dieses Jahres begann der Himmel der Verheißung zu flackern. Versuchten die Wirtschaftsweisen und in ihrem Sold stehende Medien uns bisher weiszumachen, dass die Industrie brummt, die Dienstleistungen boomen, es regne Gold (in Form von Geld) für den dauerhaften Aufschwung, kurz: wir befänden uns in einer Phase der Progression, so prognostizierten die führenden Wirtschaftsinstitute übereinstimmend eine jahrelange Phase schwachen Wachstums. Das wäre für das Erreichen der Klimaziele ein gutes Zeichen. Aber weil »Wachstum« das A und O des Orakels kapitalistischen Wirtschaftens ist, sagt es etwas aus über den Zustand der Produktionsverhältnisse.

Zum wiederholten Mal fragte der »Spiegel«: Hatte Marx doch recht? Gemeint waren die Schlussfolgerungen des Dr. jur. aus seinen umfangreichen Analysen der Krisen seiner Zeit. Eigentlich waren die Debatten um die Anfälligkeit der »sozialen Marktwirtschaft« nie abgeklungen. Als sich während des Krisenparcours der Jahre 2007 bis 2015 ein Eklat am anderen aufschaukelte: Bankenpleiten, Rezession, Euro- und Staatsschuldenkrise, besann sich das Feuilleton des lange Zeit geschmähten Karl Marx, der vor nunmehr 205 Jahren, am 5. Mai 18818, geboren wurde. Es war eine Art Auferstehung. Doch verglichen mit dem Ausmaß der Kontemplation waren die Beiträge zu seiner Krisentheorie überschaubar und meist lückenhaft geblieben.

Nun hat sich Timm Graßmann, seit 2014 Editor bei der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), der Mammutaufgabe unterzogen, zum ersten Mal eine Gesamtdarstellung der Marx’schen Studien zu den Krisenereignissen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzulegen. Bevor er sich den klassischen Theorien und den schriftlichen Hinterlassenschaften von Marx zuwendet, setzt er eine nicht zu lange Einleitung voran, die fast schon den Charakter einer Zusammenfassung hat. Ein heikles Unterfangen, erweist sich doch die Problematik der Wirtschaftskrisen als ein ideologisch vermintes Feld. Da ist jeder Satz ausgewogen formuliert und dennoch prismenklar in der Aussage.

Dass die industrielle Produktion durch periodisch auftretende Krisen erschüttert wird, war nichts Neues. Aber warum das so ist, das erschien den bürgerlichen Ökonomen als ein Rätsel. Der bis dahin heftigsten Krise 1847, die auf dem Kontinent Revolutionen auslöste, widmete sich Marx vornehmlich als Chefredakteur der »Neuen Rheinischen Zeitung« und in 24 (!) Londoner Exzerptheften. Dieses umfängliche Material konnte erst in den letzten Jahren im Rahmen der MEGA erschlossen werden. Graßmann zieht aus den Analysen der Texte den Schluss, dass Marx schon um das Jahr 1850 in Ansätzen über eine Theorie der Ursachen von Staats- und Wirtschaftskrisen sowie über ein Modell ihrer Verlaufsformen verfügte, jedoch erst durch seine Kapitalstudien eine zusammenhängende Theorie entwickelte.

Was bisher wenig beachtet wurde, arbeitet Graßmann anhand der Pamphlete für die »Neue Rheinische Zeitung« und der »Londoner Hefte« heraus: Marx beschrieb die fiskalpolitischen Maßnahmen der europäischen Regierungen im Umfeld der Krise; er markierte die Staatsfinanzen als Schnittstelle, an der wirtschaftliche und politische Probleme aufbrechen, und entwarf erstmals eine gewisse Bewegungslogik des Geldmarktes im industriellen Zyklus.

Die »Pionierarbeiten« des jungen Friedrich Engels, der bereits wesentliche Elemente einer Krisentheorie erfasste, »bevor Marx auch nur begann, über das Phänomen nachzudenken«, wie Graßmann schreibt, bleiben etwas unterbelichtet. Es ist richtig, dass Engels in seiner sozialkritischen Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845) das Faktum des zyklischen Auftretens von dem britischen Historiker John Wade übernommen hat, wonach der Expansionsprozess selbst sein Ende verursacht: In einer Phase der Überproduktion sinken die Preise, was die Konsumtion stimuliert; die dadurch erhöhte Nachfrage lässt die Preise wieder steigen und der Verbrauch stockt, es kommt zum Crash und zu steigender Arbeitslosigkeit; die rückläufige Nachfrage lässt die Preise wieder fallen, und so beginnt das Spiel von vorn. Engels hat diesen Mechanismus empirisch nachvollziehbar beschrieben und die nächste Krise für das Jahr 1847 vorhergesagt, was dann auch zutraf.

Besonders intensiv hat sich Marx mit der »gewaltsamen Eruption« von 1857/58 befasst. Diese erste Weltwirtschaftskrise gestaltete sich anders als die vorherigen Eklats, vor allem wegen der kalifornischen Goldströme, aber auch weil der Staat Mittel der Regulierung fand. Sie begann mit einem Bankencrash, wie Marx vorausgesehen hatte, in den USA und löste eine transatlantische Geldkrise aus. Der schrittweisen Eskalation zu folgen, mag dem in Alltagssorgen verstrickten Leser als eine Zumutung erscheinen, aber lassen wir uns für einen Moment darauf ein. Aus zwei Gründen: Weil der Ablauf der Krise das Expositionsmodell weitgehend bestätigt, wie es Marx am Beispiel des Zusammenbruchs von 1847/48 beschrieben hat – was für seine prognostischen Fähigkeiten spricht. Marx sagte auch voraus, dass die britische Regierung den Bank Act von 1844, eine willkürliche Begrenzung des Geldumlaufs, aussetzen müsse, obwohl der Mainstream ganz anderer Meinung war. Kurz darauf geschah dies, was dem Korrespondenten der »New York Tribune« noch gesteigertes Ansehen verschaffte.

Zweitens kehrten all diese Erscheinungen 2007/08 et cetera in unterschiedlicher Folge und Gewichtung wieder; sie waren also bis in Details vorausschaubar. Um nur einige zu nennen: zunächst Flutung des Geldmarktes aufgrund der Überproduktion. Undurchschaubare Verbriefung von Wertpapieren und Handel damit. Spekulation mit geliehenem Kapital. Ein prominenter Finanzdienstleister bricht zusammen und reißt andere mit. Daraufhin mussten 62 von 63 Banken in New York ihre Zahlungen einstellten. Die Zinsen stiegen. Die Kreditvergabe wurde blockiert. Zunehmend mehr Unternehmen verschuldeten sich oder gingen bankrott. Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes, in den europäische Banken investiert hatten. Rückgang der Konsumtion, kreditfinanzierte Waren erwiesen sich als unverkäuflich, Arbeitslosigkeit.

Die nach dem Modell von 1850/51 getroffenen Einschätzungen von Marx erwiesen sich nicht immer als falsch, aber doch als unzulänglich. Er untersucht die bisher unbekannten Phänomene in drei akribisch geführten sogenannten »Krisenheften«, korrigiert und erweitert viele seiner Ansichten. Er nimmt wahr, dass Krisen sich auf das kollektive Bewusstsein auch destruktiv auswirken können, indem nationalistische und autoritäre Strömungen um sich greifen oder Benachteiligte, das »notwendige Übel« akzeptierend, gegen ihre Interessen handeln – eine psychologische Komponente in Marx’ Schaffen, die bisher schlicht negiert worden ist.

In einem zentralen Kapitel versucht der Autor, die logische Struktur zu rekonstruieren, in der das Krisenproblem im »Kapital« behandelt wird. Marx rückt von den glatten Dualismen ab, untersucht die wechselseitigen Einflüsse der Faktoren und versteht nun die »Weltmarktungewitter« als »reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Oekonomie«. Zugleich beabsichtigte er, eine »Chronique Scandaleuse« zu schreiben, was er schließlich nicht realisierte, weil ihm klar geworden war, dass weniger einzelne Krisenereignisse die Ursachen erkennen lassen, vielmehr erst die Wiederkehr und Steigerungslogik in einem längeren Auflösungsprozess des Kapitals. Er stürzt sich wieder in die theoretische Verallgemeinerung. »Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner Oekonomischen Studien, damit ich wenigstens die Grundrisse im Klaren habe bevor dem déluge« (vor der Sintflut), schreibt er an Engels.

Weil sich der Ausbruch der Krise verzögerte, hat sich Marx ausgiebig auch die Phase der Prosperität angesehen, in der die gute konjunkturelle Lage zu Euphorie und Leichtsinn verführt. Verleihbares Kapital gibt es im Überfluss, die Bourgeoisie weiß gar nicht, wohin mit dem Geld, die Zinsen sind niedrig. Das steigert ein krisenförderndes Verhalten. Der Mainstream, von notorischen Gleichgewichtsutopien geblendet, wiegt sich in Zufriedenheit – und kürzt trotzdem die Löhne, wo es geht. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte führt nicht nur zu waghalsigen Wetten, sondern auch zur Individualisierung der Gesellschaft. Marx hat die psychologische Deutung der Krisenzyklen abgelehnt, aber die Widerspiegelung der ökonomischen Entwicklung im Denken der Menschen durchaus in Rechnung gestellt.

Der Krisenmodus 1856/57 wurde verhältnismäßig schnell überwunden. Geldpolitische Rettungsmaßnahmen haben in unterschiedlichen Regionen, zum Beispiel in Hamburg, manche noch krasseren Auswirkungen verhindert. Deshalb nahm Marx die Moderation des Krisenverlaufs unter die Lupe. Um Liquidität zu gewährleisten, stützte der Staat insolvente Banken. Zahlungstermine wurden aufgeschoben, Exportbeschränkungen aufgehoben, Bürgschaften und Vorschüsse vergeben. In England lief die Notenpresse heiß. Faule Kredite wurden ausgelagert, in Bad Banks, wie es später hieß, oder in Staatsschulden verwandelt. Alles interventionistische Maßnahmen, die uns nicht so unbekannt sind. Im Grunde liefen diese Hilfen auf eine Sozialisierung der Verluste hinaus, um die Misere auf die Konsumenten abzuwälzen.

Marx weist nach – übrigens in Übereinstimmung mit liberalen Kritikern der staatlichen Krisenmoderation –, dass dieses Instrumentarium die eigentlichen Ursachen nicht bereinigen konnte (und kann), sondern dass die Auswirkungen nur in die Zukunft verschoben werden, ja, dass bestimmte Eingriffe die Krisenanfälligkeit noch verschärfen. Die Prosperität ist die (verdeckte) Keimzelle der Rezession.

Wie sieht es nun mit der gepriesenen Stabilität der bundesdeutschen Wirtschaft aus? Schaut man sich den Ausweis des Bruttoinlandprodukts pro Jahr an, ist es damit nicht weither. 2022 ist die Wirtschaft preisbereinigt um 1,8 Prozent gewachsen. Aber im vierten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent gesunken. 2018/19 »boomte« sie um 1 Prozent. 2020 ein Verlust von 3,7 Prozent. In den letzten zehn Jahren blieb das Plus stets unter 3 Prozent. 2023 werde die deutsche Wirtschaft de facto stagnieren, verkündeten einflussreiche Ökonomen. Das kommt einer Situation nahe, die Friedrich Engels als »permanent and chronic depression« bezeichnet hat. Auch der Crash dreier amerikanischer Banken und der Credit Suisse im März sowie in dieser Woche erneut eines US-Geldinstituts offenbarte aufs Neue die Unsicherheit des Finanzkapitalismus. Insgesamt verlor der globale Bankensektor 500 Milliarden Dollar an Wert.

Was erschließt sich aus der Lektüre? Der generelle Ablauf von Wirtschaftskrisen ist im Wesentlichen gleich geblieben; er folgt gewissen Gesetzmäßigkeiten. Timm Graßmann erfasst die Herausbildung der Marx’schen Krisentheorie und ihren substanziellen Kern mit bewundernswerter Kompetenz. »Der Eklat aller Widersprüche« hat die Chance, ein Standardwerk zu werden.

Timm Graßmann: Der Eklat aller Widersprüche. Marx’ Theorie und Studien der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. De Gruyter, 555 S., geb., 113,95 €.

Der DDR-Staatsbank war Karl Marx ein Hunderter wert, Friedrich Engels musste sich mit dem Fünfziger begnügen.
Der DDR-Staatsbank war Karl Marx ein Hunderter wert, Friedrich Engels musste sich mit dem Fünfziger begnügen.
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.