Krönung in Großbritannien: Ch-e-e-e-se für Charles

Gekrönt und gesalbt, steht der König für ein Reich, das sexy, aber arm und gefährdet ist

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Krönung von Charles III. ist die hochamtliche Verneigung vor dem schönen Schein der Monarchie, das royale Gegenstück zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten an einem Tag. Soweit zu Jahresbeginn mit dem Ausbreiten schmutziger Hofwäsche durch die Autobiografie von Prinz Harry, Charles’ Zweit- und zur Thronfolge damit zu spät Geborenem, wieder mal Zweifel am Sinn der Monarchie laut wurden, waren es keine Selbstzweifel im Königshaus. Die Krönung von Charles und seiner Frau Camilla werde »Anlass für Feier und Prunk« sein, stellte der Palast klar.

Die Zeremonie findet diesen Samstag in Westminster Abbey in London statt. Dort krönt und salbt – erstmals mit veganem Öl – der Erzbischof von Canterbury Charles und Gattin Camilla. Es ist die erste Krönung seit 70 Jahren, als an gleichem Ort Charles’ Mutter Elizabeth II. ein vielstündiges Programm zuteil wurde. Das jetzige Protokoll wird gerafft, womit der Jungkönig, im November 75, Reformwillen zeigen will. Hunderte Vertreter gemeinnütziger Vereine und viele Jugendliche sind geladen. Am Tag nach der Krönung geht in Windsor, der ältesten Königsresidenz der Welt, die Feier mit einem Großkonzert weiter. Den ganzen Sonntag über sind die Briten bei Straßenfesten und Tee-Partys zum »Großen Krönungsessen« aufgerufen, bevor sie am Montageinen dritten Feiertag erleben dürfen.

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Nach den drei tollen Tagen warten auf König und Tory-Regierung als politischem Vorgesetzten des Monarchen wieder die Herausforderungen, die sich aus veränderten nationalen wie internationalen, sozialen wie kulturellen Rahmenbedingungen ergeben. Denn so viele Ch-e-e-e-se-Gesichter rund um den Trubel auch in Handyspeicher wandern werden: Charles III. steht nun in aller Form für ein Reich, das dank seiner Spitzen-Unis und -Forscher, seiner kulturellen und sportlichen Größen – und nicht zuletzt seiner Schrullen – weiter sexy, vor allem aber arm und gefährdet ist.

Weit vor Harry Styles, Harry Kane oder Harry Potter ist das Königshaus Britanniens zugkräftigstes Aushängeschild, doch die Insel hat in vielem ihre besten Tage hinter sich. Der Brexit, dessen Einfädler um Scharlatan, Charmeur und Ex-Premier Boris Johnson dem Land neue Souveränität verhießen, hat das Land geschwächt. Wiederkehrend stapeln sich in Dover Lkw, Container und Unmut, während britische Supermärkte an ihren Obst- und Gemüsetheken mitunter DDR-Flair verbreiten. Einige Ketten verfügten die Rationierung von Gurken, Tomaten und Paprika.

Doch erst der NHS! Über Jahrzehnte Stolz der Briten, steht der staatliche Gesundheitsdienst vorm Kollaps. Der von Labour 1948, im Geburtsjahr des Königs, gegründete National Health Service brachte jedem Bürger kostenlose Gesundheitsversorgung. Heute ist er unterfinanziert und überlastet. Kliniken weisen – ein Königreich für einen Notarzt – selbst Patienten in Lebensgefahr ab. Mehr als sieben Millionen warteten Ende des Winters auf OP- bzw. Arzttermine. Als ich mich hierzulande über die Wartezeit auf eine Magnetresonanztomografie ärgerte, mokierte sich der Arzt über meine Unrast: Berlin-Brandenburg besitze mehr MRT-Kapazitäten als ganz Großbritannien.

Schlechte Nachrichten hagelt es überall. Der Internationale Währungsfonds prophezeit für 2023, keine andere entwickelte Volkswirtschaft werde sich schlechter machen als die Insel. Mit nun 177 ist die Zahl der Milliardäre im Land groß wie nie. Doch ihnen stehen Millionen Briten gegenüber, die in der sechstgrößten Volkswirtschaft Armut in Dickens’schen Dimensionen erleben. Fast jeder fünfte Bewohner leidet unter dem – Übersetzung nötig? – »Shit Life Syndrome«. Und obwohl alle Länder mit den Folgen von Covid-Pandemie und Russlands Angriffskrieg kämpfen, ist das Gefühl, »die Zukunft verloren zu haben«, nirgends stärker verbreitet als unter Briten.

Die größten Herausforderungen für Charles – erster britischer Monarch, der öffentliche Schulen besuchte und bekennender wie glaubwürdiger Umweltschützer ist – hält die Politik bereit. Britannien hat sich mit dem Brexit versteuert, auch wenn etwa die Hälfte der Bevölkerung darin, von den Tories verblendet, nach wie vor einen Schritt zu mehr nationaler Kontrolle und alter Größe sieht.

Charles’ Krönung wirft einmal mehr die Frage nach der Bedeutung der Monarchie im 21. Jahrhundert auf. Dass sie demokratietheoretisch absurd ist, liegt auf der Hand. Trotzdem ist ihre arteigene Rolle erheblich. Arteigen heißt: Die Monarchie, deren Macht über die Jahrhunderte gestutzt wurde, hat King (bzw. Queen) zu nationalen Symbolfiguren degradiert – in dieser Rolle jedoch haben sie Gewicht. Der Monarch ist faktisch nicht mehr als die Stimme seines politischen Herrn, der Regierung. Als nationales Symbol aber ist er Leuchtturm der Orientierung, Stabilität und Zeitlosigkeit – jedenfalls in den Augen vieler seiner »Untertanen«.

Er steht für die Kontinuität einer Monarchie, die zurückreicht bis zu Wilhelm dem Eroberer im 11. Jahrhundert. Damit, so Queen-Biograf Hugo Vickers, unterscheiden sich die Monarchen »enorm von vergänglichen Berühmtheiten wie Filmstars, Musikern oder Politikern. Sie repräsentieren Großbritannien aus einer Position heraus, die über der Politik steht. Der Vorteil eines erblichen Staatsoberhauptes wie der Königin besteht darin, dass Menschen jeder politischen Überzeugung sie respektieren können, ohne überhaupt an Politik zu denken.« Die durch Tradition vorgegebene Nachfolge, bei der ein Herrscher auf den anderen folgt, verleiht dem Monarchen psychologisch Kräfte, die Politikern abgeht.

Der König als Symbolfigur kann regelrecht zum Narkosearzt der Nation werden: Mithilfe des von der Monarchie vorgegaukelten Nimbus von Überparteilichkeit und Ewigkeit betäubt und beglückt der Monarch große Teile der Bevölkerung. Und erfüllt damit für eine herrschende Klasse, die »zu den raffiniertesten der Welt gehört«, wie Regisseur Ken Loach findet, seine politische Mission als Stimmungsaufheller für den real herrschenden Kapitalismus. Letzteres beeindruckt bisweilen selbst Linke.

Dr. Oswald Schneidratus, auch einst in London tätiger DDR-Diplomat, vermisste in meinem Nachruf auf die Queen im »nd« einen Gedanken, der »nicht hätte fehlen dürfen: Es ist eine historisch geniale Leistung der Briten, das Königshaus in die Gegenwart gebracht und im Sinne der Erhaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung erfolgreich eingebunden und genutzt zu haben. Und das – verglichen mit anderen Ex-Feudalmächten – relativ friedlich. In Russland wurde die ganze Zarenfamilie erschossen, in Frankreich der König geköpft, in Deutschland der Kaiser davongejagt. Friedlicher sind die Gesellschaften dadurch nicht geworden. Selbst den Adel einbinden, nicht vernichten – unter anderem diese Kombination von bürgerlicher Demokratie und Königshaus ermöglichte Britannien im Verhältnis zu anderen Kolonialmächten ein friedlicheres Verlassen der Kolonien und deren Wechsel ins Commonwealth.«

Als Führer des Commonwealth mit seinen 56 Mitgliedsländern und 2,5 Milliarden Menschen ist Charles mehr als die Queen gefordert, endlich Kolonialismus und Sklaverei kritischer und weniger verlogen zu behandeln. Was unter Letzterem zu verstehen ist, hat Kunsthistoriker Neil MacGregor, einst Chef des British Museum und bis 2018 Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, einmal so beschrieben: »Früher lernten wir in der Schule, dass wir Briten den Sklavenhandel abgeschafft hatten. Dass wir es waren, die ihn eingeführt hatten, wurde unterschlagen.« Charles äußerte erstmals Unterstützung für weitere Untersuchungen zu den Profiten, die auch das Königshaus aus der Sklavenausbeutung zog.

Nach der Krönung muss er aber vor allem das Königreich zusammenhalten. Die Fliehkräfte gegen die diskriminierende Vorherrschaft Londons sind auch unter der Regentschaft seiner Mutter weiter gewachsen. Andrew Marr, schottischer Publizist von britischem Rang, erklärte: »Wir waren es gewohnt, den Nationalismus der Schotten als Ausnahme zu sehen, doch in Wahrheit ist er ein Symptom der britischen – oder eher Londoner – Krankheit. Solange wir nicht die gierige Machtkonzentration in London beseitigen, werden die Spannungen nicht abnehmen.« Wegen dieser Fliehkräfte, die variiert auch für Wales und Nordirland gelten, ist nicht mal auszuschließen, dass Charles das für seine Mutter Undenkbare tut: vorzeitig abzudanken – zugunsten seines Sohnes William.

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