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Es heilt nicht
»Die frühen Jahre« von Felix Stephan ist ein im guten Sinne trostloses Buch über das, was nach der DDR kam
Alle Jahre wieder erregt sie die deutsche Öffentlichkeit: die Ostdebatte. Jahrestage bieten den notwendigen Anlass oder auch Bücher wie jüngst die Streitschrift »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann. Menschen in der früheren DDR beklagen sich darüber, benachteiligt und missachtet zu werden. Westdeutsche geben sich überrascht von einem Zorn, den sie weder verstehen noch besänftigen können. Die Sonntagsredner der Republik schlagen schließlich vor, es solle doch mehr miteinander geredet werden, um den innerdeutschen Riss zu kitten. Seltsamerweise vertiefen solche Gespräche den Gegensatz aber oft, statt ihn aufzuheben, womöglich, weil sie erst deutlich machen, dass es Wunden gibt, die nie heilen werden, Unrecht geschehen ist, das sich nicht wieder gutmachen lässt.
In der Literatur ist das immer wieder eingeforderte Gespräch längst im Gange. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Romane über die Erfahrungen von Ostdeutschen in und nach der »Wende« erschienen, insbesondere von Autorinnen und Autoren, die nur Kindheitserinnerungen an die DDR haben und ihre Jugend schon im vereinigten Deutschland erlebten. Zu ihnen zählt auch der Kulturjournalist Felix Stephan, zurzeit Feuilletonredakteur bei der »Süddeutschen Zeitung«. Wieso sein Buch »Die frühen Jahre« vom Aufbau-Verlag als »Romandebüt« angekündigt wird, obwohl Stephan schon 2010 einen Roman im Mitteldeutschen Verlag veröffentlicht hat, weiß nur Gott beziehungsweise die Marketingabteilung. 2017 erschien ein Buch Stephans über die Suche nach dem unbekannten jüdischen Vater seiner Mutter in der Ukraine.
Auch für Stephans neuen Roman liefert die eigene Lebensgeschichte das Material. Der Protagonist und Erzähler erlebt die 90er Jahre in Ost-Berlin als Sohn einer Familie, die sich in der DDR für den Sozialismus engagierte und das Jahr 1989 als Niederlage erlebte. Obwohl die Bezüge zu Stephans Biografie offenkundig sind – der Protagonist entwickelt sich im Laufe der Geschichte zum Schriftsteller –, sollte die Erzählung doch nicht unreflektiert als historische Wahrheit gelesen werden. Der Autor warnt uns jedenfalls davor gleich zu Beginn mit einer Szene, in der sich der Erzähler daran zu erinnern glaubt, als Kind im Familienkreis der Verbrennung von verräterischen Stasi-Akten beigewohnt zu haben. Seine Eltern versichern ihm jedoch, er habe tatsächlich in jener Nacht im Bett gelegen und fest geschlafen.
Der »Niedergang unserer Familie«, von der im Roman erzählt wird, ist ein doppelter: Dem Verlust der politischen Heimat folgt die persönliche Demütigung. Der Großvater, als kommunistischer Widerstandskämpfer und KZ-Häftling in der DDR »Held des Sozialismus« und »hochrangiger Geheimdienstler«, sinkt zum gewöhnlichen Rentner mit wenigen Freunden herab. Der Vater, in der späten DDR nach einem Studium der Journalistik am Beginn einer hoffnungsvollen Karriere, bewirbt sich nach der Vereinigung naiv und vergeblich bei westdeutschen Medien. Er endet auf einem erbärmlichen Posten bei einer Bauernzeitung. Derweil übernimmt die Mutter des Protagonisten in der Familie das Kommando. Als Mathematiklehrerin wird sie zur Hauptverdienerin und stürzt sich im neuen System in die Arbeit ebenso wie ins kulturelle Leben.
Den Sohn treibt die »diffuse Stimmung des Niedergangs zu Hause« in Depressionen. In der Schule fällt er durch entsetzliche Gewaltausbrüche auf. Mit seinem einzigen wirklichen Freund Boris flüchtet er in Suff, Drogen und Musik. Die Orientierungslosigkeit der Älteren wirkt erdrückend und entmutigend: »Ich kannte keinen Erwachsenen, von dem ich behauptet hätte, dass er glücklich oder auch nur zufrieden war. Alle waren offen oder im Verborgenen unglücklich. Glück konnte ich mir nur als Kulisse vorstellen, hinter der sich eine menschliche Ruine verbarg.« Während der Vater an seiner ostdeutschen Identität klebt, sucht der Sohn ihr zu entfliehen: Er wechselt auf ein Gymnasium im Westen der Stadt, begeistert sich für US-amerikanischen Rap, Basketball und die passenden Markenklamotten.
Die Entfremdung zwischen den ostdeutschen Generationen schildert der Erzähler einfühlsam und eindringlich: »Ich kam mir fremd vor und war gleichzeitig traurig, dass ich mich so fühlte. Eigentlich sollten das doch meine Leute sein, und wir sollten uns verstehen. Aber nichts, was mich interessierte, lockte sie hinter dem Ofen hervor. Sie fanden mich windig, faul und verdächtig. Ich war niemand, der anpacken konnte, und ich sah keine Arbeit.« Einzig, dass der Sohn sich wie einst der Vater dem Schreiben widmet und den Weg zum Journalismus sucht, stiftet eine Verbindung zwischen den beiden. Gemeinsam müssen sie schließlich mit der Demenz des Großvaters fertig werden, der vor ihren Augen vom kraftvollen Helden zum völlig hilflosen Objekt verfällt.
»Die frühen Jahre« ist ein im guten Sinne trostloses Buch. Ostdeutsche Rache findet man in ihm ebenso wenig wie falsche Versöhnung. Obwohl das Politische nicht ausgespart wird, handelt es sich doch um einen sehr persönlichen Roman. Felix Stephan ist ein talentierter und routinierter Erzähler, der für seine Geschichte einen zurückhaltenden, einfachen Ton findet, mit wenigen Strichen lebendige Figuren schafft und es glänzend versteht, sich auf die entscheidenden Schlüsselszenen zu beschränken. Nur wünschte man sich, der Erzähler würde ganz aus der Perspektive des Alters seines Protagonisten und nicht aus dem wissenden Rückblick erzählen. Der Roman hat ein beeindruckendes Ende, aber der Protagonist ist einem so vertraut geworden, dass man sich nach der letzten Seite gleich wünscht, »Die mittleren Jahre« möchten demnächst erscheinen.
Felix Stephan: Die frühen Jahre. Aufbau, 256 S., geb., 22 €.
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