Jahrestag der Bücherverbrennung: Verbrannte Texte unvergessen

Lesung zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung auf dem Berliner Bebelplatz

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.
Micha Ullmanns Denkmal »Bibliothek«. Außerdem gibt es auf dem Bebelplatz eine Gedenktafel von 1983.
Micha Ullmanns Denkmal »Bibliothek«. Außerdem gibt es auf dem Bebelplatz eine Gedenktafel von 1983.

Eine Reisegruppe steht am Mittwochabend neugierig rund um die Glasplatte im Boden auf dem Berliner Bebelplatz. Ein Stadtführer erklärt ihnen auf Englisch, in welchem günstigen Winkel sie durch die verschmutzte Scheibe schauen können, um darunter leere Bücherregale zu erkennen. »Empty library« (Leere Bibliothek) sagt er zu diesem Denkmal von 1995 und erläutert, was sich der israelische Künstler Micha Ullmann dabei dachte. Ullmanns Werk verweist auf die von den Faschisten verbrannten Bücher jüdischer, pazifistischer und sozialistischer Autoren. In vielen deutschen Universitätsstädten frevelten 1933 ausgerechnet Studenten an der Kultur und warfen die genannte Literatur in die Flammen. Auch genau hier, vor genau 90 Jahren, ist das geschehen, erklärt der Stadtführer. Die Touristen sind überrascht, interessiert und entsetzt.

Beeinträchtigt ist die Sicht auf die Regale nicht allein durch den momentan schlechten Zustand der Glasplatte, die regelmäßig erneuert werden muss. Erschwert wird der Blick zusätzlich durch die Blumen, die zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung auf der Platte abgelegt wurden – etwa von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit einer Schleife »Demokratie braucht Literatur« und von der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Daniela Trochowski, Geschäftsführerin der Luxemburg-Stiftung, ist vor Ort. In Zusammenarbeit mit der Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch (Linke) organisiert die Stiftung das traditionelle Lesen gegen das Vergessen. Die Idee stammt von dem Theologen Heinrich Fink (1935–2020), der Rektor der Humboldt-Universität, PDS-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war. In den 90er Jahren lasen die Beteiligten auf dem Bebelplatz im kleinen Kreis Texte aus den einstmals verbrannten Büchern. Gesine Lötzsch machte damals schon mit. Als sie 2002 in den Bundestag einzog, übernahm sie die Organisation. Alles findet seither in größerem Rahmen statt: mit Bühne und Lautsprecheranlage und mit extra aufgebauten Sitzplatzreihen für das Publikum.

»Die Vortragenden verzichten auf ein Honorar, weil ihnen der Auftritt eine Ehre und ein Bedürfnis ist«, sagt Lötzsch. Am Mittwoch sind rund 500 Zuhörer auf dem Bebelplatz versammelt. Die Bundestagsabgeordnete freut sich über diesen großen Zuspruch. Ihre Fraktionskollegen Gregor Gysi und Petra Pau treten auf. Gysi trägt Texte von Kurt Tucholsky vor, Pau Texte von Erich Kästner.

Der Schauspieler Christian Grashof liest Ringelnatz, der Schriftsteller Ingo Schulze liest Anna Seghers und der Schauspieler Jens Uwe Bogadtke interpretiert das bitterböse »Kriegslied« von Erich Mühsam auf eine rebellische Art, die dem Anarchisten und Bürgerschreck Mühsam sicher gefallen hätte. Im Juli 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet, hatte Mühsam im März 1917 mit den schlimmen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs das »Kriegslied« gedichtet: »Aus dem Bett von Lehm und Jauche / zur Attacke auf dem Bauche! / Trommelfeuer – Handgranaten – / Wunden – Leichen – Heldentaten …«

Die verlesenen Texte müssten nicht unbedingt 1933 auf dem Scheiterhaufen gelandet sein, erläutert Gesine Lötzsch das Konzept. Die Beiträge sollen aber wenigstens mit den damaligen Ereignissen zu tun haben. Das fällt der Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld nicht schwer, die von der Bühne herunter mit eigenen Worten sagt: »Wer Bücher verbrennt, der ist nicht weit davon entfernt, auch die Menschen zu verbrennen, die diese Bücher lesen.«

Anita Prestes liest Bert Brecht. Sie ist die Tochter der deutschen Widerstandskämpferin Olga Benario und des brasilianischen Revolutionärs Luíz Carlos Prestes. Prestes erinnert daran, dass bestimmte Bücher auch noch nach der Befreiung vom Faschismus aus Bibliotheken verbannt und verboten wurden. So geschehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Militärdiktaturen in Prestes’ Heimat Brasilien und auch in Chile. 50 Jahre liegt der Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende durch General Augusto Pinochet zurück. Auch daran wird auf dem Bebelplatz erinnert. Extra engagiert ist der chilenische Musiker Alejandro Soto Lacoste.

Dass der Plan der Nazis von Mai 1933 misslang und die damals verbrannten Bücher nicht ausgemerzt und vergessen sind, beweist am Rande der Veranstaltung der Kleine Buchladen aus dem Karl-Liebknecht-Haus. Auf seinem Büchertisch liegen Neuauflagen zum Kauf aus, und in einem Regal werden auch antiquarische Auflagen aus DDR-Tagen etwa von Lion Feuchtwanger und Egon Erwin Kisch angeboten. Es müssen nicht unbedingt die seinerzeit verbotenen Titel sein, erklärt Buchhändler Wanja Nitzsche. Autoren wie Ludwig Renn überlebten Hitler im Exil und publizierten weiter. Auch einige ihrer späteren Bücher finden sich jetzt in Nitzsches Regal wieder. 

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