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Im Osten welkt die Sonnenblume
30 Jahre nach der Fusion von Grünen und Bündnis 90 fehlt der Partei eine ostdeutsche Strategie
Man muss schon sehr genau hinsehen, um prominente Ostdeutsche in den Reihen der Grünen zu entdecken. Oder man glaubt denjenigen, die behaupten, sie seien es. Außenministerin Annalena Baerbock hat einmal in einem Interview gesagt, sie fühle sich als West- und als Ostdeutsche. Gefühle kann man den Menschen schließlich nicht absprechen und Baerbock hat in ihrem Leben immerhin Ost-Erfahrungen gesammelt.
Trotzdem ist die Übermacht der Westdeutschen und ihrer mitgliederstarken Landesverbände bei den Grünen offenkundig. Die Partei- und Bundestags-Fraktionsvorsitzenden kommen ebenso aus dem Westen wie nahezu alle Bundesminister. Ausnahme ist die Dessauerin Steffi Lemke, die das Umweltressort übernommen hat.
Keine guten Voraussetzungen für die Feierlichkeiten, die dieser Tage anlässlich des 30. Jahrestages der Fusion des ostdeutschen Bündnis 90 mit der westdeutschen Partei Die Grünen stattfinden, könnte man meinen. Das Bündnis 90 war ein Zusammenschluss von Oppositionsgruppen in der DDR. Die Fusion war durch einen Assoziationsvertrag beschlossen worden, der am 14. Mai 1993 auf einem Parteitag in Leipzig in Kraft gesetzt wurde. In dem Vertrag bekannte sich die fusionierte Partei noch zu der Aussage, dass der Glaube an grenzenloses Wachstum von Produktion und Konsum sich als verhängnisvolle Gefahr erweise. Außerdem forderte sie, dass die soziale Ungleichheit durch eine Umverteilung von oben nach unten verringert werden müsse. Als die Grünen wenige Jahre später Teil der Bundesregierung unter SPD-Führung wurden, kam es bekanntermaßen anders.
Die Grünen erhofften sich, durch den Zusammenschluss in den damals neuen Bundesländern Fuß fassen zu können. Doch es dauerte einige Jahre, bis sich die Partei in den Landtagen etablieren konnte. Hinzu kam, dass ostdeutschen Grünen-Politikern die große Karriere in der Bundespolitik versagt blieb. Werner Schulz, der im November vergangenen Jahres gestorben ist, konnte sich als einer der wenigen früheren DDR-Bürgerrechtler langfristig bei den Grünen durchsetzen. Schulz war zwar kein Parteilinker, aber so weitsichtig, dass er in der rot-grünen Koalition im Jahr 2003 als einziger Abgeordneter nicht dem dritten und vierten »Hartz-Gesetz« zustimmte. Er enthielt sich und kritisierte zudem den undemokratischen Regierungsstil des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, der die Abgeordneten dadurch auf Linie brachte, dass er die Vertrauensfrage stellte.
Schulz hätte sicherlich einige kluge Sätze zu der Fusion vor 30 Jahren sagen können, wenn er noch leben würde. Die Bühne gehört nun anderen Politikern. Einer von ihnen ist Wirtschaftsminister Robert Habeck, der keine »Mentalitätsunterschiede« in Ost und West mehr erkennt. »Ich kann mit vollem Herzen sagen: die gibt es nicht«, sagte Habeck kürzlich bei einer Festveranstaltung zum Jahrestag der Fusion in Leipzig. Die Veränderung innerhalb Deutschlands werde auch in den ostdeutschen Ländern gestaltet, so der Minister. »Jedenfalls nicht in geringerer Geschwindigkeit, vielleicht in schnellerer.« So wünscht es sich Habeck, der auch in Ostdeutschland auf einen früheren Ausstieg aus der Kohleverstromung drängt.
Vor ein paar Jahren klang das noch anders. In einem Video vor der Landtagswahl in Thüringen rief Habeck dazu auf, dass der Freistaat »ein offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird, ein ökologisches Land«. Viele Menschen in Thüringen und vermutlich auch in anderen ostdeutschen Bundesländern fühlten sich dadurch beleidigt. Denn die Äußerungen von Habeck schienen das zu untermauern, was manche Meinungsforscher behaupten: Viele Ostdeutsche seien noch nicht richtig »in der Demokratie angekommen«. Zu allem Überfluss behaupteten Habeck und sein Team, dass der Grünen-Politiker nur falsch verstanden worden sei. Überheblicher geht es nicht. Als Lehre aus diesem Fauxpas hat Habeck im Jahr 2019 den Osten bereist, wollte ihn kennenlernen und die Menschen für die Grünen gewinnen. Doch der Erfolg war mäßig.
Die Grünen kommen in den Umfragen in allen ostdeutschen Ländern auf einstellige Werte. Auch im Bundestagswahlkampf hat Annalena Baerbock, die als Kanzlerkandidatin der Grünen angetreten war, zu spüren bekommen, dass es nicht reicht, ein Bürgerbüro in Frankfurt (Oder) zu unterhalten, einige Jahre als Brandenburger Landeschefin absolviert zu haben und von der offenen Grenze zu Polen zu schwärmen, um bei ostdeutschen Wählern zu punkten. Die Grünen-Politikerin ist in Franken und Niedersachsen aufgewachsen, also keineswegs seit ihrer Kindheit Ost-sozialisiert. Sie gehört zu den wohlhabenden Westdeutschen in Brandenburg, von denen viele im Speckgürtel um Berlin ihr neues Zuhause gefunden haben. Mit dem Osten verbindet sie nur die friedliche Revolution und die deutsche Einheit, nicht die sozialen Folgen, die der Siegeszug des Kapitalismus und die Deindustrialisierung seit den 90er Jahren mit sich brachten.
Baerbocks Wahlkampfauftritte im Osten sorgten bei einigen Menschen, die von Journalisten befragt wurden, für Kopfschütteln. Sie sahen die von der Grünen-Politikerin angekündigte Energiewende vor allem mit Kosten verbunden, die auf die Menschen abgewälzt werden sollten. Aus diesen Gründen scheint nach neueren Erhebungen im Osten und Westen die Beliebtheit der Grünen zu sinken. Viele Bürger sehen den Plan von Habeck skeptisch, neue Öl- und Gasheizungen ab 2024 zu verbieten.
So dramatisch, wie manche Medien die Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute für die Partei darstellen, ist die Lage aus Sicht der Grünen allerdings nicht. Sie liegen entweder bei den 14 bis 15 Prozent, die sie bei der vergangenen Bundestagswahl erreicht hatten, oder leicht darüber. Es gibt also bisher keine großen Verluste, sondern den Grünen gelingt es nicht, viele neue Wähler für sich zu gewinnen.
Aus parteistrategischer Sicht wäre es also naheliegend, dass die Grünen den 30. Jahrestag der Fusion mit dem Bündnis 90 zum Anlass nehmen, eine neue Ost-Strategie aus dem Hut zu zaubern, um ihre notorische Schwäche in den dortigen Regionen zu überwinden. Doch bisher gibt es von den Spitzenpolitikern nicht einmal Lippenbekenntnisse, sich stärker um spezifische Probleme, insbesondere in den ländlichen und strukturschwachen Gegenden, in den ostdeutschen Ländern kümmern zu wollen. Bei jungen Menschen, Akademikern und Städtern gewinnt die Partei. Bei anderen ist sie außen vor, weil sie ihnen nach wie vor nichts zu bieten hat.
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