- Reise
- Reise/Hotels
Ein ganzes Dorf wird zum Hotel
»Alberghi Diffusi« – ein Erfolgsmodell, das Leute im Ort hält und Touristen anzieht
Idyllisch verschachtelt, autofrei, 1200 Jahre Geschichte: Apricale in Ligurien zählt zu Recht zu den schönsten Dörfern Italiens. Besonders schön ist die zentrale Piazza Vittorio Emanuelle II, die vom Rathaus, dem barocken San-Bartolomeo-Oratorium und dem etwas erhabenen Castello della Lucertola bilderbuchartig eingerahmt wird.
- www.albergodiffuso.com
- Übernachten:
Apricale, DZ/F ab 65 Euro
www.muntaecara.it/albergo-diffuso
Corippo, DZ/F ab 170 Euro
www.corippoalbergodiffuso.ch
www.ticino.ch/corippo
Eine hübsche Kulisse, die Touristen schätzen, nicht aber unbedingt alle 622 Einwohner. Die Folge, die auch in Hunderten anderen Dörfern des Landes seit Jahrzehnten zu beobachten ist: Vor allem Jüngere zieht es weg. Schließlich gibt es oft zu wenig Arbeitsmöglichkeiten im Dorf und damit zu wenig Perspektiven. Viele Urlauber, in der Regel in den Küstenorten stationiert, kommen nämlich höchstens auf einen Cappuccino oder ein Glas Vino vorbei und lassen vergleichsweise wenig Geld vor Ort. Doch wo, bitte, soll auf so engem Raum auch ein Hotel entstehen, das noch dazu nicht das Ambiente zerstört?
Das »Munta e Cara« jedoch zeigt, dass es durchaus gelingen kann, Gäste über Nacht im Dorf zu halten. Und das ohne Neubau oder internationales Hotelmanagement im Rücken. Wie das? Rund um Nonna Gari’s Frühstücksraum und die Rezeption an der zentralen Piazza verteilen sich zehn Suiten und 23 Zimmer in unterschiedlichen Häusern mitten im Ort. Sehr italienisch, sehr ästhetisch, sehr individuell. Damit ist das »Munta e Cara« ein Paradebeispiel für ein »Albergo Diffuso«.
Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff »verstreutes Hotel«. Konkret liegen Organisation und Geschäftsführung zwar in einer Hand, die zur Übernachtung angebotenen Gästezimmer liegen aber verteilt im gesamten Dorf. Zum Einsatz kommen, so auch in Apricale, ungenutzte Zimmer und Zweitwohnungen von Privatpersonen, separat zugänglich, aber oft mit Familienanschluss. Urlaubsgäste, so die Idee, wohnen zwischen Einheimischen und haben trotzdem Hotelservice. Denn wie in einem normalen Hotel werden hier, anders als in Ferienwohnungen üblich, täglich die Zimmer gereinigt, Betten bezogen und auf Wunsch Frühstück und kleine Mahlzeiten serviert. Wo Gäste im Ort essen gehen können, erfahren sie in der Rezeption.
Die »Rezeption«, von jedem Zimmer höchstens 200 bis 300 Meter entfernt und in wenigen Gehminuten erreichbar, ist auch bei Anfragen und Beschwerden die erste Adresse, bei der Ankunft ohnehin. Neuankömmlinge erhalten dort Schlüssel, Lageplan, Tipps und auf Wunsch Einblicke in das einmalige Hotelkonzept, das in den späten 70ern in der Region Friaul-Julisch Venetien erfunden wurde. Befeuert durch das Bedürfnis nach mehr Authentizität und Nachhaltigkeit und nicht zuletzt den coronabedingten Überdruss an Massenunterkünften ist die Nachfrage insbesondere in den vergangenen Jahren merklich gestiegen.
Inzwischen gehören zur Associazione Nazionale Alberghi Diffusi mehr als 80 Dörfer. Dazu zählen auch die restaurierten Höhlen in den berühmten Sassi von Matera sowie die Trulli, steinerne Zipfelmützen-Dörfer in Apulien. Doch egal, in welchem Teil Italiens man sich befindet, das erklärte Ziel des Verbandes lautet stets: Von massiver Abwanderung und damit dem Aussterben bedrohte Dörfer sollen auf diese Weise wieder belebt werden. Um in den Verband aufgenommen zu werden (und von der gemeinsamen Dachmarke zu profitieren), müssen jedoch einige Kriterien erfüllt sein. Dazu zählt das Vorhandensein eines historischen Ortskerns und einer Dorfgemeinschaft, um Urlaubern etwas vom Alltag und Lebensstil vor Ort mitzugeben.
2022 wurde nun gar das erste Albergo Diffuso außerhalb Italiens aufgenommen – das Zwölf-Seelen-Dörfchen Corippo im schweizerischen Verzascatal. Dort fungieren fünf der im Ort verteilten Rustici als Zimmer mit insgesamt 26 Betten. Die Gassen bilden quasi die Hotelflure, während die Osteria als Rezeption und Treffpunkt mit Aussichtsterrasse zum Verweilen dient – und der bereits für Sterneköche tätig gewesene Jeremy Gehring aufkocht.
Ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit bewahrt die Umsetzung dieses innovativen Hotelprojekts die historische Architektur des authentischen Tessiner Dorfes und generiert gleichzeitig einen touristischen Nutzen, der für den Fortbestand des Dorfes sorgt – Hauptziel aller Alberghi Diffusi. Diese könnten in Zukunft sogar einen etwas größeren Radius annehmen. Bei einem ebenfalls im Tessin verorteten Projekt würden sogar ganze Häuser, auch außerhalb des Dorfes gelegen, als gemeinsam vermarktete und vernetzte Unterkünfte fungieren.
Infos
- www.albergodiffuso.com
- Übernachten:
Apricale, DZ/F ab 65 Euro
www.muntaecara.it/albergo-diffuso
Corippo, DZ/F ab 170 Euro
www.corippoalbergodiffuso.ch
www.ticino.ch/corippo
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.