Das gefährliche japanische Erbe

Im Nordosten Chinas liegen noch immer Chemiewaffen in der Erde

  • Fritz und Frank Schumann, Qiqihar
  • Lesedauer: 9 Min.
Eigentlich sollten auf dem Platz in Qiqihar Häuser errichtet werden, doch der Boden ist verseucht, die Fläche wurde mit Beton versiegelt.
Eigentlich sollten auf dem Platz in Qiqihar Häuser errichtet werden, doch der Boden ist verseucht, die Fläche wurde mit Beton versiegelt.

Über die freie Fläche inmitten des Wohngebietes schneidet der Wind. Es ist kalt, auch wenn am fast wolkenlosen Himmel die Sonne hängt. Wir haben Ende April und gefühlt Winter. Zu Jahresbeginn sinkt die Temperatur auf minus 25 Grad, im Sommer steigt sie auf knapp über 20, hier im Nordosten von China, in der Provinz Heilongjiang. Einige Kinder flitzen über die säuberlich verlegten Platten, und Jugendliche hocken rauchend auf der umlaufenden Balustrade. Abseits, im Windschatten der Häuser, halten sich einige lärmende Männer an ihren Flaschen und junge Mütter an ihren Kinderwagen fest. Der Platz ist trist, vom pulsierenden Stadtleben ist hier wenig zu spüren.

Das liegt allerdings weder an der Unfähigkeit der Architekten, die solche Tristesse vorsätzlich angerichtet haben, noch am rasanten Tempo, mit dem binnen weniger Jahre aus einer der ältesten Siedlungen in der Region eine Millionenstadt gemacht wurde. Bedeutsam ist ein Vorgang, der inzwischen zwei Jahrzehnte zurück und nun unter diesem Beton begraben liegt. Als man hier die Gruben für die Hausfundamente aushob, stießen Bauarbeiter am 4. August 2003 auf fünf verrostete Fässer. Aus einigen tropfte Flüssigkeit. Die Arbeiter riefen einen Schrotthändler an, der holte die Fässer samt Inhalt ab. Im Laufe des Tages meldeten sich 37 Bauarbeiter mit sonderbaren Verbrennungen und Verätzungen in der Sanitätsstelle, einige keuchten und hatten Probleme beim Atmen. Am Tag darauf gingen weitere sieben Tiefbauer mit gleichen Symptomen zum Arzt. »Der Schrotthändler verstarb nach sieben Tagen auf der Intensivstation«, sagt Professor Wang Tianjiao, mit dem wir auf dem versiegelten Platz inmitten des Neubaugebietes stehen.

Wang – ein Mann um die 40 mit dunklem Dockercap – arbeitet und forscht im Städtischen Museum zu den Hinterlassenschaften der Kwantung-Armee, die hier in Qiqihar zwischen 1931 und 1945 einen wichtigen Militärstützpunkt unterhielt. Die Japaner hatten die Mandschurei okkupiert und den Marionettenstaat Mandschukuo mit dem letzten chinesischen Kaiser Puyi als Oberhaupt installiert. Sie beuteten rücksichtslos die Ressourcen unter der Erde aus und die Menschen, die diese bevölkerten. Sie missbrauchten die Chinesen zu widerlichen medizinischen Versuchen, wofür sie die Einheit 731 unterhielten, und testeten beispielsweise an ihnen die Wirkung biologischer und chemischer Waffen. Nicht nur diese Menschenexperimente gelten heute als Kriegsverbrechen – auch die in China verscharrten Massenvernichtungswaffen sind es. Sie töten noch immer.

»Senfgas«, sagt Wang, »ein Kampfstoff aus Deutschland, erfunden 1916 von Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf aus Berlin. Deshalb heißt das Dreckszeug auch Lost, gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Namen der beiden deutschen Chemiker.«

Wo überall die Chemiewaffen vergraben wurden, wüssten nicht einmal die Japaner: Es wurde beim eiligen Rückzug nichts dokumentiert. Eine systematische Suche ist darum nicht möglich. Bis vor wenigen Jahren stellte Tokio sogar in Abrede, dass von den etwa 9000 Tonnen Giftgas, die in Japan produziert worden waren, überhaupt etwas nach China gelangt sei. Wie man auch nicht von einem Krieg gegen China spricht und schreibt (dem übrigens 35 Millionen Chinesen zum Opfer fielen), sondern von der »Bekämpfung rebellischer Kräfte«.

Das Außenministerium in Tokio habe acht Tage später und fast 60 Jahre nach dem Krieg schmallippig erklärt, Untersuchungen hätten ergeben, dass der Giftgasunfall in Qiqihar »durch zurückgelassene Waffen der ehemaligen japanischen Armee verursacht wurde. Die Regierung Japans betrachtet einen solchen Unfall als äußerst bedauerlich und spricht den Opfern ihr tief empfundenes Mitgefühl aus.« Tokio bedauerte also den Unfall, moniert Wang, nicht den Eroberungskrieg, den man geführt hatte. »Um solche Schäden in Zukunft zu verhindern, beabsichtigt die japanische Regierung, sich so schnell wie möglich um gefährliche zurückgelassene chemische Waffen zu kümmern.« Dabei wolle man »eng mit der chinesischen Seite« zusammenarbeiten. Mehr nicht.

Nun, sagt Professor Wang, mit Geld und Technik aus Japan wurde unweit von hier, in Harbaling, eine Fabrik zur Entsorgung der Chemiewaffen errichtet. Ursprünglich sollte bis 2007 alles erledigt sein, dann bis 2012. Zehn Jahre später sei man noch immer nicht fertig, liege noch vieles unentdeckt im Boden und sorge für Gefahr. Alleiniger Grund: Die Beziehungen zwischen beiden Staaten befänden sich auf dem Tiefpunkt. Japan habe sich in die US-Strategie gegen China einbinden lassen. Verärgere aber auch gern andere Nachbarn, sagt der Professor. Aktuell etwa mit der Ankündigung, über eine Million Tonnen verstrahltes Kühlwasser vom AKW Fukushima ins Meer leiten zu wollen.

Angeblich sei es harmlos, zumal gereinigt und verdünnt. Wenn’s denn so ist, frage jeder, der logisch denken kann: Warum hat man dann erst 140 000 Liter kontaminiertes Wasser Tag um Tag in Tanks gesammelt, und das zwölf Jahre lang? Die Anrainer – insbesondere die 16 im Pazifischen Inselforum vereinten Staaten – fürchten um ihre Fischgründe, weshalb sie mit Tokio monatelang verhandelten. Ohne Ergebnis. Japan habe alle Bittsteller und Bedenkenträger arrogant abblitzen lassen, heißt es.

Verärgert nannten die Verhandlungsführer Japan die vierte Kolonialmacht Ozeaniens. Die anderen drei Kolonialmächte waren oder sind die USA, Großbritannien und Frankreich. Diese hätten die Inselstaaten nicht gefragt, als sie auf den Atollen ihre Atomtests durchführten. Sie sorgten mit ihrem Raubbau an der Natur für die Erderwärmung und damit für den Anstieg des Meeresspiegels, weshalb viele Inselstaaten im Wortsinne untergehen werden. Und jetzt, so der Professor mit dem weiten Geschichtshorizont, zerstörten die Japaner möglicherweise den Fischern auch noch die Existenzgrundlage. Die Hälfte der Thunfische auf der Welt wird nämlich in dieser Region aus dem Meer gezogen. »Es ist der gleiche imperiale Hochmut wie damals. Menschen in den besetzten Ländern wurden von den Japanern als Maruta bezeichnet, als Holz, mit dem man verfahren konnte, wie es beliebte. Maruta waren Objekte, keine Subjekte.«

Wir verlassen das Auto. Wang Tianjiao weist auf einen steinernen Stumpf, der sich neben der Straße erhebt. Jemand hat die Feldsteinmauer an einer Stelle mit weißer Farbe getüncht und darauf eine Telefonnummer geschrieben. Daneben ein Schriftzeichen. Wang kopfschüttelnd: »Da wirbt einer für seine Autowerkstatt. Dabei steht doch hier alles, was die Japaner damals errichtet hatten, unter Denkmalschutz.« Auch wenn das Areal heute der Volksarmee gehöre, wovon eine weithin sichtbare Beschilderung kündet.

An diese jedoch scheint sich niemand zu halten. Über das weitläufige Areal jagt der eisige Wind nicht nur Plastiktüten und Papierfetzen – das Gelände dient erkennbar als öffentliche Müllkippe. An einer Ruine, die wir nach einigen Schritten erreichen, verweisen zwei Tafeln auf die Geschichte des Ortes und die hier im Mai 1938 aufgestellte und stationierte Einheit 516, bestimmt zur chemischen Kriegsführung. Die gemauerte Baracke wird von einem Gitterzaun umfasst, das schmiedeeiserne Tor ist verschlossen. Überflüssig, denn als wir das Objekt umrunden, stellen wir fest, dass hier heftig mit der Flex gearbeitet wurde. Etliche Zaunfelder wurden geklaut.

Irritiert gehen wir weiter. Und treffen auf Frauen. Sie schützen sich mit dicken Anoraks und dicken Schals vor der Kälte, nur einen schmalen Schlitz für die Augen haben sie freigelassen. Sie machen sich zwischen Beeten zu schaffen, aus denen die Triebe von Zwiebeln grün hervorlugen. Prof. Wang empört sich. »Das ist illegal, was Sie hier machen«, fährt er die Frauen an, »das ist Armeegelände. Und außerdem ist der Boden vergiftet!«

Die Frauen winken ab. »Jungchen, was weißt du schon«, sagt die eine. »Hier ist kein Gift. Das liegt da hinten.« Sie weist in unbestimmte Ferne und Richtung, über die Ruine des Glaswerkes hinaus, in dem die Japaner Ampullen und andere Giftgas-Gefäße produzierten. Der Professor wirkt konsterniert. Das sei China, sagt er resigniert. »Wir machen Gesetze und kaum einer hält sich dran. Zumindest hier bei uns.«

Die illegalen Zwiebelbeete stoßen an einen Metallzaun. In seiner Mitte reckt sich meterhoch ein Schlot. Am Gemäuer Tafeln wie drüben, an der Baracke. War das ein Krematorium? »Es gibt keinerlei Hinweise oder Dokumentationen. Auf alle Fälle wurde hier viel verbrannt. Ob Menschen, Akten oder Lazarett-Abfälle – wir wissen es nicht.«

Später, beim wärmenden Tee in seinem Büro im Städtischen Museum, zeigt uns der Professor etliche Publikationen, einige sind auch von ihm. Im Bücherstapel findet sich eine dicke Kladde mit handschriftlichen Aufzeichnungen und Skizzen. Das Tagebuch eines japanischen Soldaten. Ein Lehrer aus Qiqihar habe es in Japan gekauft und ihm zu Studienzwecken geliehen.

Die japanischen Quellen, so Wang, sind die wichtigsten, weil einzigen. Es gibt so gut wie keine chinesischen Zeugnisse. Viele Zeitzeugen überlebten den Krieg nicht, und die meisten waren Analphabeten, sie konnten ihre Beobachtungen nicht aufschreiben. Das mache seine Arbeit so schwierig. Wang Tianjiao pult aus einem Tütchen eine Medaille hervor. Sie wurde – so sagt er, denn die japanischen Schriftzeichen darauf können wir nicht lesen – an die Teilnehmer des ersten Manövers der Giftgastruppe 516 verliehen. Er habe das seltene Stück für 10 000 Yuan auf einem Flohmarkt erworben. 10 000 Yuan sind umgerechnet etwa 1300 Euro, so viel wie sein Monatsgehalt.

Der Professor verfügt erkennbar über viel Leidenschaft und Selbstlosigkeit. Seinen Enthusiasmus hat er bei unserer Rückkehr in sein winziges, stark renovierungsbedürftiges Büro in der Etage über den strahlenden, modernen Ausstellungsräumen des Museums demonstriert: Am Straßenrand steht, leicht erhöht, ein kreisrundes Bauwerk, von dem der Putz bröckelte. »Wir wissen nicht, wozu es den Japanern diente«, meint er. Für einen Bunker sei die Armierung zu gering, für einen Beobachtungspunkt fehlen die Sehschlitze, und Hinweise auf installierte Technik habe er auch nicht entdeckt. Der Eingang – ein quadratmetergroßes Loch, darüber eine Erinnerungstafel, welche die Betonjurte als schützenswertes Denkmal ausweist. Der Professor geht auf die Knie und rutscht ins Innere, gefolgt vom Fotografen. Nach geraumer Zeit kehren sie zurück. Staubig, schmutzig, aber erleuchtet und beseelt. Augenscheinlich, berichten sie, nutzten Jugendlichen das gruselige Gemäuer, zumindest deuteten einige Hinterlassenschaften darauf hin.

Am Abend steigen wir in den Zug nach Harbin. Die Bahnlinie war um die Jahrhundertwende vom Zarenreich als Teil der Transsibirischen Eisenbahn errichtet worden. Sie ging im Russisch-Japanischen Krieg 1904 aber verloren, weshalb die Russen weiter nördlich eine neue Trasse nach Wladiwostok anlegen mussten. Für die japanischen Besatzer war diese Ostchinesische Eisenbahn von strategischer Bedeutung. Sie errichteten in Qiqihar einen großen Bahnhof. Das Gebäude ist heute ein Übernachtungsquartier für Dienstreisende, daneben steht ein pompöser neuer Bahnhof. Ehe man auf den Bahnsteig kommt, wird der Reisende visitiert und fotografiert wie auf dem Airport und das Gepäck mehrfach durchleuchtet. Wir passieren etliche Sicherheitsschleusen, dann aber können wir Platz nehmen in der Rakete auf Schienen. Die aber fliegt lediglich von Bahnhof zu Bahnhof, vorbei an Öl- und Reisfeldern. Nix mit 300 km/h und mehr. 300 Kilometer graubraune Winterlandschaft, und am Horizont versinkt blutrot die Sonne. Aber was für eine Natur.

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